Der Archivar des Grauens

Man könnte ihn einen verd(r)eckten Ermittler nennen: An seinen Beweisunterlagen klebt nicht nur Blut – auch dicke Staubwolken umgeben ihn bei seiner Recherche. Dr. Martin Roelen ist Archivar im Stadtarchiv Wesel, das in einer alten Garnisonsbäckerei aus dem Jahre 1806 untergebracht ist.

Irgendwann, da  hat den Historiker seine kriminalistische Neigung gepackt und er begann, in über 500 Jahre alte Morde und Totschläge zu ermitteln. „Als ich Chroniken über Rechnungen und Besitzstände auswertete, stieß ich zufällig auf Ungereimtheiten, und dachte mir, da müssen Verbrechen geschehen sein“, so Roelen. „Diese liegen zwar lange zurück, aber… Mord verjährt nicht", so der Weseler Archivar.

Martin Roelens kriminalistisches Bewusstsein wurde schon früh geweckt: Als Jugendlicher lebte er in Duisburg-Hamborn, musste aber nach Ruhrort zum Schulschwimmen fahren. Das war in den 70er-Jahren, als die schockierenden Taten und Bilder des Duisburger Massenmörders Joachim Kroll durch die Medien gingen. „Ich kaufte mir immer die Bildzeitung, um neues von diesem menschlichen Monster zu erfahren“, erinnert sich Roelen. Joachim Kroll soll seine Opfer zerstückelt, in einer Kühltruhe seiner Dachgeschosswohnung aufbewahrt und anschließend gegessen haben. Man wusste damals, dass die Polizei Hände und Füße von Opfern in auf dem Herd stehenden Kochtöpfen gefunden hatte. „Als Jugendliche waren wir sehr geschockt – dann, irgendwann, hatten wir herausgefunden, wo sich die Wohnung des „Menschenfressers von Duisburg“ in Laar befand. Da wurde dieses Monster plötzlich real für uns.“ So real, wie die grausamen Fälle, die irgendwann aus Roelens längst vergessenen und vergilbten Chroniken auftauchten – und über die man lieber den Mantel des Schweigens legen würde.

In den 1980er-Jahren wurde sein kriminalistischer Spürsinn weiter geschärft. Auch wenn Martin Roelen damals bereits in Bonn mit seinem Studium der Geschichte und Philosophie begonnen hatte, so liebet er es, sich immer wieder auf die Spuren eines fiktiven Tatort-Kommissars seiner Heimtstadt Duisburg  zu begeben. In direkter Nachbarschaft befanden sich viele Originalschauplätze der Schimanski-Krimis, die im gesamten Duisburger Stadtgebiet gedreht wurden. „Ich weiß noch, wie oft der Matena-Tunnel bei Thyssen – zwischen Bruckhausen und dem Alsumer Berg – gesperrt war für die Dreharbeiten zu Schimanski-Filmen. Heute steht der Matena-Tunnel unter Denkmalschutz“, erinnert sich der Hobbykriminologe. In fast jeder Tatort-Folge konnte man sehen, wie Kommissar Schimanski durch die Unterführung fuhr. „Oder bei mir in Marxloh, direkt um die Ecke, da gab es den Imbiss Peter Pomm. Hier haben Schimanski-Darsteller Götz George und sein Kollege Eberhard Feik alias Kriminalhauptkommissar Christian Thanner, so manche Currywurst gegessen und in Mordfällen ermittelt“.

Mord in bester Gesellschaft

Beim Verfassen einer wissenschaftlichen Schrift zu den Besitzstandsverhältnissen im Wesel des 15. Jahrhunderts, stieß Roelens kriminalistische Spürnase kurz darauf selbst auf Merkwürdiges. Im  Jahr 1476 hatte der junge Kaufmann Hermann Bars, genannt Olisleger (Alysleger), im Affekt einen Knecht erschlagen. Ein offensichtlicher Totschlag. Dem Täter war aber nie der Prozess gemacht worden. Martin Roelen nahm die Ermittlungen auf und recherchierte. „Die Nachfahren aus dem Geschlecht der Bars galten generell als jähzornig“, weiß Chefermittler Roelen aus deren Familiengeschichte zu berichten. Auch, dass  Hermann Bars nach der Tat sofort nach Köln entschwand und dort untertauchte. „Die Weseler Stadträte wurden in dieser Zeit von dessen Familie beschwichtigt, wohl auch mit Geldleistungen, damit sie ihn nicht verfolgten“, so Roelen. Und da es zu jener Zeit auch nicht üblich war außerhalb seines Herrschaftsgebiets Verbrecher zu jagen – Schleierfahndungen gab es ja noch nicht – wuchs so langsam Gras über die Sache und der Täter führte ein erfolgreiches Kaufmannsleben als weltweit vernetzter Händler. Er brachte es sogar zu großem Reichtum.

Etwa um 1490, kehrte Bars dann nach Wesel zurück. Und obwohl der Rat der Stadt von seiner Missetat wusste, geschah rein gar nichts. Es verhielt sich tatsächlich so, dass der damalige Herzog Johann II. von Kleve Gefallen an dem erfolgreichen Mann gefunden hatte. „Genauer gesagt, an seinem Vermögen“, lächelt Martin Roelen. „Der reiche Kaufmann Bars konnte dem ständig klammen Herzog uneingeschränkt Kredit geben. So kam es, dass der Herrscher ihn später sogar zum Landesrentmeister, also Finanzminister, ernannte.“ Als ein klares Zeichen, quasi ein Schuldeingeständnis für den begangenen Totschlag, ist der Bau der Olisleger-/ Alysleger-Kapelle im Weseler Willibrord-Dom durch den damals bereits 60-jährigen Heinrich Bars. „Es war oft so, dass Täter der Kirche eine Geldleistung als Sühne entgegenbrachten, wenn sie eine Sünde begangen hatten“, so Roelen, „Heinrich Bars, der hat sich so auch gleich seine eigene Grabstätte in die Kirche bauen lassen.“ Für den Totschlag, den er in jungen Jahren begangen hatte, wurde er nie belangt.

Der Fall Heinrich Bars ist nicht der einzige Fall von dem Roelen berichten kann. Auch über peinliche Befragungen in Wesel, weiß er so einiges zu erzählen. Beispielsweise die Befragung der Mechthild Husmann, die im späten 16. Jahrhundert im Verdacht stand, eine Hexe zu sein und gefoltert wurde. „Die Vorkommnisse lassen sich anhand von Amtsrechnungen gut belegen. Sie beschreiben genau, wann der Scharfrichter, ein herzoglicher Beamter aus Kleve, zu peinlichen Befragungen und Hinrichtungen hierher bestellt wurde. Ebenfalls belegt ist, wie die ‚Befragungen‘ durchgeführt wurden, also welche Folterinstrumente – ein bohrender Stachel oder eine heiße Zange – zum Einsatz kamen“, berichtet der Archvivar. Martin Roelen fand heraus, dass Mechthild Husmann beim Rat der Stadt Schutz vor der Verleumdung suchte. Der Rat konnte ihr aber nicht helfen, da die Angelegenheit über den Herzog an den herzoglichen Richter in Wesel geleitet wurde, der einen Hexenprozess in Gang setzte. Das Ergebnis: Die unschuldige Frau wurde zuerst erdrosselt und dann öffentlich verbrannt. „So wurden auch sinnlose Verbrechen von der Obrigkeit begangen“, meint Roelen. Und noch ein Fall beschäftigte ihn: Arndt von Helsichem hatte um1402 einen Mord begangen, der über einen Paragraphen des Stadterhebungsprivilegs von 1241 nachzuweisen ist. Demnach verloren Mörder die Hälfte ihres Hauses an den Landesherrn. Arndt von Helsichem wurde hingerichtet und seine Frau übergab die eine Hälfte des Hauses an den Junker Dietrich von der Mark. „Dieser verkaufte 1402 die ihm zugefallene Hälfte, was den rechtlichen Vorgang ‚Anfall des halben Hauses bei Mord’ eindeutig beweist“, so der Weseler Stadtarchivar. 

Bücher über die Weseler Stadtgeschichte hat Archivar Dr. Martin Roelen schon einige geschrieben. Über die mittelalterlichen Kriminalfälle ein Buch zu schreiben, liegt ihm allerdings fern. „Letztendlich gibt es darüber zu wenig Material, man könnte höchstens mal einen Aufsatz darüber verfassen.“ 

Text + Fotos:  Stephan Sadowski | NiederRhein Edition, Ausgabe 02/2017

 

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