Der Belgier an sich polarisiert. Charmant, einfallsreich, adrett – sagen die einen. Ein wenig schmuddelig, verquer, chaotisch – sagen die anderen. Wir haben uns einen Tag lang in die Kusttram gesetzt und versucht, es herauszufinden. Die Kusttram, das ist die Küstenstraßenbahn, die sich die komplette belgische Nordseeküste entlangzieht. Mit 67 Kilometern Länge gilt die Tram als eine der längsten Straßenbahnlinien der Welt. Exakt so lang ist auch der Strand, der sich wie ein gelbes Sandband von den Grenzpfosten Frankreich und Niederlande zieht.
In der Kusttram am Meer träumen
Nirgends sonst lernt man Land und Leute im Land von Pommes, Pralinen, Manneken Pis und Trappistenbier, Muscheln, Waffeln, Atomium und Eddy Merckx näher kennen. Denn in der Kusttram „De Lijn“ verkehren kaum Touristen, sondern „ganz normale Belgier“, meist Flamen: Mütter, die ihr Baby spazieren führen; Senioren, die einen Abstecher ans Meer machen; Kinder, die Schnick-Schnack-Schnuck spielen; Familien, die einen Ausflug in die Küstenstadt Oostende mit seinem endlos langen Strand machen; knutschende Frischverliebte, die den einzigen Nudistenstrand Wenduine kurz hinter De Haan anpeilen.
Sehr sympathisch ist auf jeden Fall schon mal der Preis: Für 7,50 € pro Nase können wir den ganzen Tag Tram fahren. „Das lohnt“, sagt Albert. Der 58-Jährige sitzt im Lijnwinkel im Seebad Bredene ein paar Kilometer hinter Oostende und kurz vor De Haan. Fast jede der 68 Stopps der Bahn hat solch ein besetztes Info-Häuschen. Der Service ist wirklich gut – abgesehen davon, dass die Tram immer Vorfahrt hat. In 138 Jahren hat sich die umweltfreundlich auf E-Mobilität gepolte Kusttram von der anfänglichen Dampfstraßenbahn der belgischen Kleinbahngesellschaft bis heute stetig weiterentwickelt. Albert macht den Schaffner-Job seit 30 Jahren, was man ihm nicht anmerkt: freundlich, lächelnd, gesellig, interessiert – und dass der Tourist ihn nicht auf Flämisch anspricht, quittiert er mit einem einwandfreien Deutsch.
In De Panne geht die Reise los
Wir sind an diesem sonnigen Samstag Anfang Juli allerdings schon anderthalb Stunden vorher, gegen 11.30 Uhr, in der ersten Station der Kusttram eingestiegen: De Panne. Allerdings ist der Automat im Bahnhof Adinkerkekurz vor der französischen Grenze und direkt am Vergnügungspark Plopsaland defekt. Typisch Belgien? Mag sein. Aber typisch belgisch ist auch, wie charmant Albert uns aufklärt und den Gedanken beiseite schiebt, dass wir im Grunde anderthalb Stunden „schwarz“ gefahren sind: „Kein Problem.“
De Panne ist der westlichste Punkt Belgiens und auch der südlichste Badeort an der belgischen Küste. Die 11.000-Einwohner Gemeinde, wo vielfach schon das Französische eine Rolle spielt, haben wir in der Vergangenheit schon schätzen, ja lieben gelernt. Deshalb können wir jetzt ins Bähnle steigen, ohne das Gefühl zu haben, etwas verpasst zu haben. Die nächsten drei Stunden bestimmt die Kusttram auf ihrer zweispurigen sieben Meter breiten Trasse mit der elektrischen Oberleitung unser Leben. Wir setzen uns auf unserer Fahrt zum Endpunkt Knokke ganz nach hinten und auf die linke Seite in den klimatisierten Wagen, damit wir möglichst viel Meer sehen.
Doch Pustekuchen: Erst nach 53 Minuten eröffnet sich uns das Meer in seiner ganzen Schönheit. Und zwar hinter dem Halt De Greefplein bei Middelkerke. Hier liegt zwischen uns und dem Gestade nur die Promenade, wo Urlauber per Rad, Vespa, E-Scooter, Kettcar oder zu Fuß mit Kind, Kegel und Waldi das Strandparadies genießen.
Zuvor war es alles andere als langweilig. Wir blicken in die Hinterhöfe von gewaltigen Hotelburgen – belgischer Brutalismus in Beton. Aber es gibt auch Villen, mondäne Chalets, postmoderne Apartmenthäuser, Pensionen im Art-déco-Stil. Jeder Ort hat seine Vorzüge – ob Koksijde, Oostduinkerke, Nieuwpoort, Blankenberge etc.
In Oostende den Atem der Geschichte spüren
Oostende: Aus der Kusttram sehen wir eine Menge von der Hafenstadt. Einige skurrile Ansichten kennen wir bereits. Der belgische Maler James Ensor hat die Metropole, die wegen des Kanals Gent-Brugge stets ein wichtiger Umschlagplatz im internationalen Schiffsverkehr gewesen ist, expressiv-surrealistisch überhöht. Das Milieu der Fischer, das Ensor uns in seinen Bildern vermacht hat, prägt sicherlich unser Oostende-Bild.
Nun, Oostende ist keine herbe Schönheit, wie wir sie später in De Haan und vor allem Knokke erleben werden. Aber die Stadt ist es wert, in mehr als einem flüchtigen Blick aus der Kusttram erkundet zu werden. Die Altstadt, der Hafen, die Parks, die Königlichen Galerien, die skulpturale Sandkunst und allenthalben das pulsierende Leben machen die 71.000-Einwohner-Stadt sehenswert.Schließlich musste Oostende, das unter der deutschen Besatzung stark gelitten und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von alliierten Bombern nahezu komplett zerstört wurde, sich nach 1945 neu erfinden. Was vor 80 Jahren in dieser Gegend los war, davon zeugen einige grausame Bunker in den Dünen.
Auf Einsteins Spuren in De Haan
Ganz anders De Haan! Für uns – zugegeben – ist es die malerischste Ecke an Belgiens Gestaden. Nicht nur, weil Albert Einstein 1933 aus dem für ihn als Jude nicht mehr sicheren Deutschland dorthin kam und für ein halbes Jahr in der Villa Savoyarde in der Shakespearelaan wohnte. Der Physiker liebte den Strand und die Wälder der Gegend. Als ein befreundeter jüdischer Forscher in Tschechien von den Nazis erschossen wird, begreift Einstein, dass er auch in Belgien nicht mehr sicher ist und verlässt den Kontinent über den Hafen Oostende nach London, von wo er in die USA auswandert.
De Haan ist unser Favorit nicht nur wegen der langgestreckten Strandpromenade, die es in identischer Qualität ein paar Kilometer weiter auch in Knokke gibt. Vielleicht ist es das Concessie-Viertel mit seinen Jugendstilgebäuden im weiß getünchtem Klinker und hellroten Dachziegeln – ein Höhepunkt der Belle Epoque. De Haan strahlt wie kein anderer belgischer Küstenort ein Savoir-vivre aus, wie es manchen britischen Seebädern eigen ist. Was wunder, dass man abends beim Sonnenuntergang über dem Kanal die Lichter an Englands Küste freundlich blinzeln sieht. Le Coq sur Mer, wie die Franzosen den Ort tauften, ist auch unser Hahn im Korb.
In Knokke ist der JetSet zuhause
Tja, und dann kommt Knokke, 22 Kilometer weiter die Kustlaan hoch. Finale furioso unserer Kleinbahnreise. Das mondäne Seebad polarisiert. Für die einen ist vor allem der Ortsteil Heist ein architektonisches Juwel, vielfach kopiert in seiner Wohn-Noblesse auch am Niederrhein. Für die anderen ist Knokke verbunden mit JetSet, teuren Klamotten, Lamborghini und Lambada, aufgespritzten Lippen und Après-Surf. Einigen wir uns darauf: Knokke ist sexy, hat in den letzten Jahren viel an sich gearbeitet und lohnt einen Besuch.
Zum Glück ist aus der Idee von König Leopold II., der Belgien bis 1909 insgesamt 44 Jahre regierte, nichts geworden, über die Kusttram eine langgestreckte Küstenstadt von Frankreich bis an die Niederlande zu entwickeln. Zum Glück gibt es die Straßenbahn aber immer noch, sie zuckelt zuverlässig, eng getaktet und für jeden Geldbeutel erschwinglich die Küste entlang. Ja, sie ist mit Blick auf Klimawandel, Verkehrsinfarkt, übervölkerte Touristenhochburgen wichtiger denn je. Nicht nur für die touristische Infrastruktur in Belgien.
Ein Rückzugsort für die Seele, stressfreiund ursprünglich
Die Kusttram, so der Eindruck nach vielen Fahrten mit der Bahn, ist den Belgiern eine Herzensangelegenheit. De Lijn hält nicht nur die Küste zusammen, sondern ein ganzes heterogen gewachsenes kleines Land mitten in Europa.
Die Kusttram (niederländisch für Küstenstraßenbahn) ist eine meterspurige Überlandstraßenbahn in Belgien. Sie verbindet alle Orte der belgischen Küste miteinander und wird vom Verkehrsunternehmen De Lijn geführt. Dieses ist für ganz Flandern zuständig und betreibt darüber hinaus die Straßenbahn Antwerpen und die Straßenbahn Gent. Die gesamte Kusttram wird von der durchgehenden Linie KT bedient, die bis 30. Juni 2023 Linie 0 hieß, wobei die Liniennummer nicht an den Fahrzeugen angezeigt wird.
Die Kusttram ist ein Überrest des Überlandnetzes der Nationalen Kleinbahngesellschaft (NKG). Der erste Streckenabschnitt zwischen Oostende – Middelkerke-Dorf – Nieuwpoort wurde am 5. Juli 1885 als Dampfstraßenbahn eröffnet, 1886 wurde der Abschnitt Oostende – Blankenberge fertiggestellt, 1908 die Strecke nach Knokke. Mit der Elektrifizierung wurde 1897 begonnen: Oostende – Middelkerke-Bad – Nieuwpoort. Später wurde der Abschnitt Nieuwpoort – De Panne-Esplanade gebaut. 1929 war der Abschnitt De Panne – Knokke durchgehend elektrisch befahrbar. Der jüngste Abschnitt von De Panne-Esplanade zum Bahnhof De Panne in Adinkerke wurde erst am 1. Juli 1998 eröffnet.
Für die einfache Strecke benötigen heute die Fahrzeuge der Linie KT laut Fahrplan zwei Stunden und 23 Minuten einschließlich zwei Minuten Aufenthalt in Oostende. In den Sommermonaten, wenn viele Touristen an die Küste kommen, verkehren die Züge tagsüber im Zehn-Minuten-Takt. An größeren Stationen ist ein Fahrkartenkauf am Schalter möglich. An kleineren Stationen kann die Fahrkarte mit Aufpreis beim Triebfahrzeugführer gekauft werden.