Buckelige Verwandtschaft
Text: Jan Jessem | NiederRhein Edition 01/2012 | Bilder: Thomas Momsen
Dieser Showroom könnte irgendwo in Berlin-Kreuzberg in einem ranzigen Fabrikgebäude verortet sein. Glas, Holz, Leder, gebürstetes Metall, das mit einem Quäntchen Rost überzogen ist, gerade so, dass es schick und nicht verlottert wirkt, dazu prangen Hirschgeweihe auf Waschbeton. Das atmet Großstadtflair. Findet sich aber in einem Industriegebiet in Neukirchen-Vluyn und ist das Herz des Firmensitzes von aunts&uncles.
Der Firmensitz selbst ist ein kantenloser Quader mit einer Holzfassade, umgeben von einem Garten, in demalte Obstsorten gedeihen, Bäume und Sträucher. Und der Chef trinkt Bionade. Das ist verdammt viel Statement auf einmal, richtig. Unnötig zu sagen, dass aunts&uncles keine Stangenware unters Volk bringen.
Angelika und Sven Scheurer – das sind die Köpfe dieses kleinen Unternehmens – machen in Taschen. Robuste, praktische Dinger, aus Leder meistens, die mit ihrem auf gebraucht getrimmten Äußeren daher kommen, als seien sie Erbstücke. Erbstücke werden in Familien weitergegeben, sind langjährige Begleiter, haben ihren Wert. Und exakt das ist der Kern der Markenphilosophie des Unternehmens: „Wir bedienen Leute, denen Familie, Tradition, soziale Einstellung und eine gute Kinderstube wichtig sind“, sagt Sven Scheurer. Das klingt zunächst mal unfassbar retro und angestaubt. Aber die Scheurers haben damit offenbar den Zeitgeist voll erwischt. Ihre Taschen stehen mittlerweile in 450 Shops bundesweit, dazu in Belgien, Österreich, den Niederlanden, der Schweiz. Und, by the way, in den USA. Nicht schlecht für ein Unternehmen, das erst vor neun Jahren aus der Taufe gehoben wurde.
Zufall ist das aber nicht. Sven Scheurer hat das Vertriebswesen von der Pike auf gelernt, seine Frau Angelika ist Designerin. Passt. Am Anfang ihres gemeinsamen Unternehmens stand eine Trendstudie. Ergebnis: Viele Menschen stehen auf Nachhaltigkeit und traditionelle Werte. Das ist in Zeiten, in denen Entschleunigung als Protestkultur verstanden werden kann, keine revolutionäre Erkenntnis – die Scheurers haben aber daraus eine Marke aufgebaut, die verdammt authentisch rüberkommt. Das fängt beim Namen des Unternehmens an. Tanten und Onkel – das ist Familie pur und entspricht dem (Zeit-)Geist des Unternehmens. „Ob buckelig oder nicht. Verwandtschaft bleibt Verwandtschaft“, sagt Sven Scheurer und muss dabei ein wenig lachen. Angelika Scheurers Kreationen tragen Namen wie Mrs. Muffin, Mrs. Pancake, Miss Cookie – „da habe ich mich von Omas Backstube inspirieren lassen“ – oder Bob, John und Jason. Einfach, klar,schnörkellos, wie das bodenständige Design ihrer Taschen, die sie gerne als „Kumpel“ bezeichnet.
Die Taschen werden in Indien produziert. Indien? Da, wo Kinderarbeit und Dumpinglöhne an der Tagesordnung sind? Nicht bei den Zulieferern von aunts&uncles, versichert Sven Scheurer: „Wir verlangen, dass die Arbeitsbedingungen stimmen. Lohn, Krankenkassenbeiträge, Arbeitszeiten, die ethnische Zusammensetzung. Wir kontrollieren das regelmäßig.“ Auch die indischen Lieferanten, sagen die beiden, gehören mittlerweile zur Unternehmens-Familie. Die ist in den vergangenen Jahren gewachsen, das bleibt nicht aus bei dem Erfolg. 18 Mitarbeiter arbeiten jetzt insgesamt in dem im vergangenen Jahr bezogenen Firmensitz in Neukirchen-Vluyn. Aber so richtig durch die Decke schießen wollen die Scheurers lieber nicht. „Wir stehen mit beiden Füßen auf der Bremse, achten sehr darauf, geerdet zu bleiben. Unser einziger relevanter Wachstumsfaktor ist die Qualität.“ Und eines ist für die beiden auch klar: Vom Niederrhein weg wollen sie nicht. „In Berlin oder anderen Großstädten muss man sich mit Dingen wie Tradition und Familie als Attitüde schmücken. Hier wird das gelebt.“