Schützenfeste am Niederrhein: Sehen und gesehen werden
Viele Wohnräume in der ersten Etage der Villa Erckens sind miteinander verbunden, so dass bald der Blick frei wird auf den Ausstellungsbereich „glaubens fragen“. Der Glaube am Niederrhein ist längst nicht mehr nur noch katholisch geprägt: An der Wand mit religiösen Utensilien wie einem Kollektenkörbchen, einem Kreuz und einer Flasche Messwein ist neben einer Madonna auf einem Sockel auch ein Burkini zu sehen: ein blauer Ganzkörper-Schwimmanzug für muslimische Frauen. Und in Vitrinen stehen Modelle einer katholischen und einer evangelischen Kirche sowie einer Synagoge. „Eigentlich müsste man noch einen leeren Glaskasten dazustellen, für die Ausgetretenen“, ergänzt Pelzer-Florack. Stefan Verhasselt fällt bei dem Thema eine Begebenheit ein, die ihn als Katholik stutzig gemacht hat: „Eine gute Freundin in Moers – sie ist evangelisch – hat mir einmal ihre Kirche gezeigt. Und ich konnte es nicht glauben: die war größer als die katholische! In allen anderen Städten ist das ja meist umgekehrt, aber Moers ist eben eine evangelische Enklave am sonst katholischen Niederrhein.“ Ebenfalls katholisch geprägt ist die niederrheinische Tradition der Schützenfeste. Die Museumsmacher haben dafür einen ungewöhnlichen Zugang gewählt. Anstelle von Uniformen, Königsilber und Holzvogel wird ein Film von einem Schützenfest gezeigt. Der Clou: Gedreht wurde er von einem Westfalen und einem Tierfilmer. „Es sollte bewusst eine Draufsicht Unbeteiligter sein“, erläutert Stefan Pelzer-Florack. Das Experiment ist gelungen. Und Stefan Verhasselt erinnert sich an seine Zeit als Redakteur bei Welle Niederrhein, in der er regelmäßig als Ehrengast verschiedenste Schützenfeste der Region besucht hat und einmal sogar einen Ehrenschuss abgeben durfte: „Ich habe den Vogel tatsächlich getroffen“, erzählt er heute noch ungläubig und fügt hinzu: „Toll war auch die Tradition des Eierbratens. Nachdem das Programm im Zelt zu Ende und das letzte Bier an der Theke getrunken war, ging es zu einem der Schützenbrüder nach Hause. Dort wurden dann zig Eier in die Pfanne gehauen – eine gute Grundlage, um am nächsten Tag weiter zu feiern.“ Schmunzelnd erinnert er sich auch an die typischen Kommentare der Zuschauer bei den Festumzügen, die ja unter dem inoffiziellen Motto stehen „Sehen und gesehen werden“: „Dabei wurden immer die Kleider beurteilt, nach dem Motto: ,Kumma, die sieht aber juut aus in dem tollen Kleid; dafür, dat die eigentlich Metzgersfrau is...‘“
Was für ein Niederrheiner bin ich? Eine Telefonnummer gibt Auskunft.
Wie schon viele Besucher der vergangenen vier Jahre nimmt Stefan Verhasselt jetzt auf der hölzernen Schulbank aus der Nachkriegszeit Platz. Bilder aus seiner Grundschulzeit in Straelen schießen ihm in den Kopf „Es war richtig schön, aber mitten im 4. Schuljahr sind wir nach Sankt Tönis gezogen, weil mein Vater dort im Krankenhaus eine Stelle als Bäckermeister bekam. Als mich meine Mutter abholte und wir über den Schulhof gingen, haben alle meine Mitschüler an den Fenstern gestanden und mir zugewunken. Da war ich sehr traurig.“ Selbst das Niederrhein-Rezept gegen Trauer, „Du musst tüchtig essen“, half in den ersten Wochen nicht.
Essen und Trinken, Glaube und Sprache, Sitten und Bräuche am Niederrhein – alles das bildet das Museum der Niederrheinischen Seele lebensnah und detailreich ab. Die letzte Abteilung „heim-spiel“ greift noch einmal alle Schwerpunkte der Dauerausstellung auf. Man kann seine Essensvorlieben mit Punkten bewerten, Fragen zu seinem Glauben beantworten, eine virtuelle Radtour unternehmen und sich als Karnevalsprinz, Bauer oder Jungfrau fotografieren lassen. An jeder Station gibt es Punkte, die eine sechsstellige Nummer ergeben. Die wird an einem beigen Schnurtelefon per Wählscheibe eingegeben. Durch die Muschel hört man dann seine persönliche Niederrheincharakteristik. Das klang bei Stefan Verhasselt so: „Ihr Zeichen ist der Schaufelradbagger. Energiegeladen wie Sie sind, haben Sie alle Aufgaben rasch bewältigt. Auch im Job können Sie innerhalb kürzester Zeit ordentlich was wegschaffen.“
Ein Rundgang durch das Museum der Niederrheinischen Seele ist für Niederrheiner wie ein Spaziergang durch die eigene Vergangenheit und Mentalität. Vergessenes wird aufgefrischt, Erlebtes noch einmal intensiviert. Und Nicht-Niederrheiner lernen den Menschenschlag mit seinen gesellschaftlichen, kulturellen und kulinarischen Eigenheiten kennen. Dazu tragen die originellen Mitmachstationen, aber auch Stefan Pelzer-Florack als kundiger Museumsführer, bei. Wer das Museum besuchen möchte, sollte unbedingt einen Termin für eine Führung ausmachen. Sie ist im Eintrittspreis von 4,- Euro für Erwachsene und 1,50 Euro für Kinder enthalten.
Museum der Niederrheinischen Seele
Villa Erckens
Am Stadtpark
41515 Grevenbroich
Informationen zu Führungen
Telefon: 02181-608-656
E-Mail: kultur@grevenbroich.de
www.museum-villa-erckens.de