Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert war Schmuggel in der niederrheinischen Grenzregion ein lukrativer Erwerbszweig für breite Teile der Bevölkerung, gesellschaftlich zumindest klammheimlich akzeptiert, romantisch verklärt und zeitweise überlebensnotwendig für viele Menschen. Den Grundstein für den kollektiven Hang zum Gesetzesbruch legten ausgerechnet die pedantischen Preußen, die seit dem Wiener Kongress 1815 am Niederrhein das Sagen hatten. Dessen Grenze zu den Niederlanden wurde 1816 im Grenztraktat von Kleve festgelegt. Die Preußen schufen 1818 mit dem Zollgesetz das erste moderne Grenzzollsystem und schafften zugleich die Binnenzölle ab. Zuvor hatte die Grenze zu den Niederlanden lediglich politische Bedeutung; jetzt war sie wirtschaftlich immens wichtig für das Königreich, sollten die dort erhobenen Zölle doch jede Menge Geld in den Staatshaushalt spülen.
Als Schmuggel noch ein Volkssport war
Für die Grenzbevölkerung bedeutete der 20. September 1818, der Tag, an dem das Zollgesetz in Kraft trat, einen enormen Einschnitt: Sie mussten von einem Tag auf den anderen für Produkte aus den Niederlanden wesentlich mehr bezahlen. Eigentlich. Denn die Niederrheiner waren schon immer recht eigensinnig, ließen sich ungern von fremden Herren bevormunden und nutzten das plötzliche Preisgefälle zwischen jenseits und diesseits der Grenze zu ihren Gunsten aus - mit Inkrafttreten des Zollgesetzes blühte der „strafbare Schleichhandel“ auf. Bereits 1820 sollen allein zwischen Roermond und Nimwegen auf niederländischer Seite 2.000 Menschen vom Schmuggel als Haupterwerbsquelle gelebt haben. Die Niederländer zogen das verbotene Geschäft professionell und ziemlich dreist auf. Handelshäuser aus Venlo schickten sogar Briefe an Kaufleute in Wesel, Duisburg, Mülheim und Düsseldorf, in denen sie ihnen Angebote für die Anlieferung von steuerfreien Waren unterbreiteten.
Abenteuerliche Banden
Geschmuggelt wurden Kaffee, Zucker, Reis, Tabak, Gewürze, Südfrüchte, Rum, Vieh, Käse. Als besonders lukrativ galt aber Salz. Darauf hatten die Preußen ein staatliches Monopol, das sie dazu ausnutzten, den Salzpreis mächtig in die Höhe zu treiben – Salz aber wurde von der Bevölkerung dringend gebraucht, nicht nur zum würzen, sondern auch zum Konservieren von Fleisch und anderen Lebensmitteln. Der Schleichhandel wurde generalstabsmäßig geplant und durchgeführt: Die niederländischen Kaufleute schlossen sich zu Schmuggelhandelsgesellschaften zusammen und engagierten ganze Banden von Abenteurern, die schwer bepackt nächtens die Grenze überquerten, um ihre Schmuggelware dann auf preußischem Staatsgebiet zu deponieren, oft in Bauernhöfen, wovon sie dann von den Abnehmern abgeholt wurde. Diese Banden waren teilweise bis zu 100 Mann stark.
Als Schmuggler betätigten sich aber beileibe nicht nur Profis, auch einfache Bürger und Bauern gingen regelmäßig mit verbotener Ware über die Grenze und standen zudem hinter dem Treiben der Banden. Sehr zum Leidwesen der Behörden. So beklagte das Oberlandesgericht Münster 1840, dass viele Meineide zugunsten von Schmugglern abgelegt würden, da allzu oft die Meinung vorherrsche, dass „es kein Verbrechen sey, den Staat um die Steuer zu betrügen“.
Die Zöllner schossen scharf zurück
Die Preußen nahmen es aber keineswegs sang- und klanglos hin, dass ihnen wegen der niederrheinischen Schmuggler Unsummen durch die Lappen gingen – sie schlugen mit aller Härte der Staatsmacht zurück. So entsandten die Preußen bereits 1819 ein Militärkommando an die niederrheinische Grenze, etwa in den Hauptamtsbezirk Kranenburg, der bei Schmugglern wegen des dortigen Hochwaldes besonders beliebt war. Schon 1823 waren in der so genannten Rheinprovinz 700 Grenzbeamte eingesetzt, Männer, die aus anderen preußischen Provinzen an den Niederrhein abkommandiert worden waren, um Verbrüderungen mit der Bevölkerung zu verhindern. Die Grenzer hatten das Recht, im Notfall scharf zu schießen. Anfangs nur zur Selbstverteidigung. Mit dem 1834 verabschiedeten Waffengebrauchsgesetz erhielten sie zudem das Recht, auf Flüchtige zu schießen. So wurde der Schmuggel ein lebensgefährliches Geschäft: Zwischen 1827 und 1850 wurden 29 Schmuggler erschossen, die meisten auf der Flucht. Hunderte wurden verletzt.
Zugleich wurden für den Schleichhandel drakonische Strafen verhängt: Wer beim Schmuggeln von Konterbande, also der Ein- und Ausfuhr verbotener Waren wie Salz, oder der Defraudation, also der klammheimlichen Ein- und Ausfuhr abgabepflichtiger Waren erwischt wurde, musste mit empfindlichen Geldstrafen und, falls er zum wiederholten Male ertappt wurde, mit dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und lebenslanger Haft rechnen. Allein zwischen 1827 und 1829 wurden in der Rheinprovinz 1812 Gefängnisstrafen wegen Schmuggelns verhängt. Zudem führten die Preußen repressive Überwachungsmaßnahmen ein, etwa mit der Polizeiaufsicht, die den Ordnungshütern gestattete, bekannte Schmuggler regelmäßig, oft mehrmals täglich, aufzusuchen und zu überprüfen.
In der Bevölkerung löste dieses Vorgehen Groll und Missmut auf, der sich manchmal sogar in gewaltsamen Übergriffen gegen Beamte entlud – besonders, wenn Schmuggler erschossen wurden. Bei den Märzunruhen 1848 kam es sogar zur gewaltsamen Erstürmung von Zollämtern und der Zerstörung von Grenzsteinen.
Einfallsreich und legendär
Auch im 20. Jahrhundert hielt der Schmuggel an: Nach dem Ersten Weltkrieg, besonders während der großen Depression, der Inflation und der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit, ließen sich die Niederrheiner einiges einfallen, um die günstigen Waren aus den Niederlanden illegal nach Deutschland einzuführen. Die Nachbarn machten es ihnen ziemlich einfach: Sie bauten Einkaufsbaracken direkt hinter der Grenze auf. Hunderte überquerten nachts „met de Pömmel op den Nack“, dem prall gefüllten Sack mit Schmugglerware, Schokolade, Kaffee, Tee, Weizenmehl, Tabak, Mettwurst, die Grenze. Tagsüber wurden Fahrräder mit hohlen Rahmen genutzt, um Kaffeebohnen zu schmuggeln, Pferdekarren mit doppelten Böden, ab und an auch Büstenhalte in Übergrößen oder enorm hohen Sonntagshüte.
Einige Gestalten aus diesen Tagen wurden zu Legenden. Jan „den Düwel“ Janssen beispielsweise, der mit seiner Frau Antonia „Toin den Engel“ van Baal, um die Jahrhundertwende eine Herberge in der einsamen Heide im Grenzland zwischen Rhein und Maas betrieb, in der Nähe des niederländischen Bergen. In dieser Herberge gingen Schmuggler, Landstreicher, aber auch ehrbare Bürger ein und aus, hier spielte sich das bunte Leben ab. Oder der Schmugglerkönig Att aus Hamborn, der in den zwanziger Jahren zu einer Berühmtheit wurde, ein Draufgänger und Weiberheld, der bei der Bevölkerung auch deshalb äußerst beliebt war, weil er ziemlich spendabel war. Er trieb es sogar so weit, dass er mit einem gepanzerten Auto die Schlagbäume durchbrach. Ein Held für viele Kinder und Jugendliche.
Auch zu dieser Zeit blühte der professionelle Großschmuggel. Schmuggler wurden in Bussen aus dem Ruhrgebiet an den Niederrhein gekarrt, Kolonnen mit mehr als zwanzig Mann, samt Vorkommandos und Spähern waren keine Seltenheit, auch Lastwagen wurden eingesetzt. Wie im 19. Jahrhundert kam es zwischen Pömmlern, den Schmugglern, und Kommisen, den Zöllnern, regelmäßig zu Schießereien mit Toten und Verwundeten.
Die Butternacht von Elten
Internationale Beachtung fand schließlich 1963 eine gigantische Schmuggelaktion, die eigentlich gar keine war: Die Butternacht von Elten. Elten, heute ein Ortsteil von Emmerich, war nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 den Niederlanden zugeschlagen worden, als Wiedergutmachung für die deutsche Besetzung. 1963 wurde Elten wieder deutsch. Zahlreiche findige Unternehmen nutzten das aus – der ganze Ort war in den Tagen vor dem 1. August 1963 eine einzige Einlagerungszone. Leerstehende Häuser, Kinos, Tanzsäle, waren bis unter die Decke mit günstiger niederländischer Butter und Rohkaffee gefüllt, die Straßen waren voller Lastwagen. Als Elten dann am 1. August deutsch wurde, hatten sich die Unternehmer den Zoll gespart und damit ein Millionengeschäft gemacht.
1993 kam dann das Ende des Schmuggels als Volkssport – das Schengener Abkommen hatte den europäischen Binnenmarkt Wirklichkeit werden lassen.
Quellen: Volker Jarren, Schmuggel und Schmuggelbekämpfung in den preußischen Westprovinzen 1818 – 1854, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1992, Johann Kösters, Die Schmuggelgrenze in Boeckelt an der Kendel zwischen 1926 und 1933, Festschrift der KAB Asperden, 1987, Tim Terhorst, „Als wir bei Holland kamen…“, Historischer Verein für Geldern und Umgebung, Geldern, 2008, Helmut Schopmanns, „Als die Grenzen fielen…“, Geldrischer Heimatkalender 1994
Wir danken dem Kreisarchiv Kleve für die Unterstüzung.
Text: Jan Jessen für NiederRhein Edition 2009 / Bilder: Kreisarchiv Kleve