Geschichte zum Anfassen: Ein besonderer Streifzug durch das historische Linn!
Wer am linken Niederrhein lebt oder hier einmal zu Besuch war, kennt Krefeld-Linn mit seinem historischen Ortskern und den liebevoll restaurierten Häusern, von denen viele unter Denkmalschutz stehen. Überregional bekannt ist das Burgstädtchen vom Flachsmarkt, der jedes Jahr an Pfingsten stattfindet. Wenn man durch Alt-Linn bummelt, hat man das Gefühl, jeden Moment könnte eine Kutsche oder ein Pferdefuhrwerk über das Kopfsteinpflaster rollen. Alte Mauern, Türme und Wassergräben erinnern an den mittelalterlichen Ursprung, als man rund um die kurkölnische Landesburg Ritter und wehrhafte Bürger antreffen konnte. An anderen Stellen des Burgstädtchens findet man weitere spannende Zeitzeugen von der Antike bis zur Preußenzeit.
Petra Verhasselt war gemeinsam mit Fotograf Michael Ricks für uns unterwegs in ihrem Heimatdorf und hat dabei viel „Neues Altes“ entdeckt. Sie traf den stellvertretenden Direktor des Archäologischen Museums, den Linner Nachtwächter, eine Galeristin, zwei Ritter, eine Tierpflegerin der Außenstation des Krefelder Zoos und einen Gastwirt, der zusammen mit seiner Frau in Linns ältester Gaststätte die Tradition seines Urgroßvaters fortführt.
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Unser Rundgang beginnt im Archäologischen Museum, wo ich mit dem stellvertretenden Museumsdirektor, Dr. Christoph Dautermann, verabredet bin. Vorher gibt’s aber einen Latte Macchiato im Foyer, das gleichzeitig auch Museumscafé ist. Unser Ziel sind heute aber nicht die leckeren Kuchen, sondern ein archäologisches Superlativ von unermesslichem Wert: die vollständig erhaltenen Grabbeigaben des Frankenfürsten Arpvar, die Archäologen vor genau 60 Jahren bei Ausgrabungen im Krefelder Stadtteil Gellep entdeckt haben. Von 1934 bis 2018 legten sie dort eine Totenstadt mit über 6.000 Gräbern frei, die als größtes ausgegrabenes und erforschtes Gräberfeld nördlich der Alpen in die Geschichte einging. Das Fürstengrab ist eins von ganz wenigen frühmittelalterlichen Adelsgräbern im Rheinland, das nicht geplündert wurde. Der sagenhafte Inhalt befindet sich in einer gläsernen Vitrine, die ein bisschen an den Sarg von Schneewittchen erinnert.
Der vergoldete Fürstenhelm
„Wenn man überlegt, dass Fürst Arpvar vor gut 1.500 Jahren auf dem Gelände des ehemaligen römischen Kastells begraben wurde, lässt einen das schon mit einer gewissen Ehrfurcht vor diesem Grab stehen“, betont Christoph Dautermann und auch ich schaue mit großer Bewunderung auf den Goldhelm und die vielen wertvollen Beigaben wie goldene Sattelbeschläge und Stirnriemen von Zaumzeugen mit dunkelrot schillernden Edelsteinen. Unter dem Sicherheitsglas liegen außerdem jede Menge vergoldete Schwerter und andere Waffen. Heute weiß man: Arpvar war ein gestandener Kämpfer, der durch Tüchtigkeit, also vor allem Kampfkraft, seine Stellung behaupten musste. Damals waren Waffen, wie auch der vergoldete Helm, Statussymbole. Stadtarchäologe Dr. Hans-Peter Schletter hat mir einmal erzählt, dass einer seiner Professoren die Waffen mit einem Mercedes 600 verglichen hat.
Der Niedergermanische Limes ist UNESCO-Weltkulturerbe
Das Gräberfeld ist Teil des ehemaligen römischen Kastells Gelduba („Gellep“). Es liegt am Niedergermanischen Limes, der 2021 zum UNESCO Weltkulturerbe erhoben wurde. Dieser Grenzabschnitt darf sich nun Welterbestätte „Grenzen des Römischen Reiches – Niedergermanischer Limes“ nennen. Er liegt in den heutigen Niederlanden, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz und war die Grenzlinie zwischen dem linksrheinischen Teil des Rheinlandes und der Niederlande, der zum Römischen Reich gehörte, und den rechtsrheinischen Gebieten. Vom ersten bis fünften Jahrhundert nach Christus bestand der Limes fast ununterbrochen an derselben Stelle. Viel mehr über die Geschichte rund um Linn und auch Krefeld kann man bei Führungen erfahren. „Unsere kleinen und großen Besucher staunen immer, was man hier alles sehen kann. Wir haben eine unglaubliche Sammlung, angefangen bei der hohen Frühgeschichte und der Antike, über das frühe Mittelalter und das hohe Mittelalter mit der Burg bis zur Zeit der Seidenbarone im 18. und 19. Jahrhundert“, schwärmt Dr. Dautermann und fügt hinzu: „Man kann sich locker einen ganzen Tag hier aufhalten und bekommt an jeder Ecke etwas Neues und Spannendes zu sehen.“
Tolle Nachtwächter-Geschichten über das historische Krefeld-Linn
Über den Außenbereich des Museumscafés spazieren wir Richtung Burg Linn. Unter dem Torbogen zur Vorburg erwartet uns der Nachtwächter von Linn, Heinz-Peter Beurskens, mit Hut, schwarzem Flanellumhang, Horn, Tasche und einem klirrenden Bund riesiger Schlüssel. In der einen Hand trägt er eine Laterne, in der anderen eine Hellebarde.
Von Ende September bis Ostern führt er Gruppen und Einzelpersonen bei zweistündigen Rundgängen durch sein geliebtes Linn. Nachtwächter wurde er übrigens vor rund 15 Jahren, nachdem er mit seiner Frau in Salzburg an einer „Nachtwächter- und Gespenstergeschichten-Führung“ teilgenommen hatte. „Das wäre doch auch was für unser historisches Linn“, dachte er und eignete sich daraufhin mit Hilfe des damaligen Museumsleiters, Dr. Christoph Reichmann, Linner Geschichte und Geschichten an. Als erstes erfuhr er, dass Nachtwächter die Aufgabe hatten, vor Feuer zu warnen und Gesindel fernzuhalten: „Sie waren eine Art Polizei und kontrollierten auch, ob Gaststätten pünktlich schlossen und dort kein Glücksspiel stattfand. Der stündliche Gesang sollte der Bevölkerung zeigen: ,Leute, ich bin auf meinem Posten und bekomme alles mit.‘“
Wer mit dem Linner Nachtwächter unterwegs ist, kommt aus dem Staunen nicht heraus, zum Beispiel, bei diesen Fakten: Linn war eine sehr bekannte Pilgerstadt. Bis zu 7.000 Pilger kamen dann gleichzeitig zum „wundertätigen“ Linner Kreuz in der Pfarrkirche Sankt Margareta, das ihnen Heilung versprach. Die Pilger blieben zum Teil mehrere Tage und kehrten natürlich auch in den Gaststätten ein. Das Angebot war damals noch groß. Es gab 14 Kneipen, zehn Hausbrauereien und eine Weinstube – und das bei 467 Einwohnern. Allerdings untersagten die Preußen im Jahr 1822 mehrtägige Pilgerreisen „wegen der nächtlichen Ausschweifungen in den Linner Kneipen“.
Trinkfeste Pilger und ein Einbrecher ohne Hand
Die Zahl der Pilger riss aber nicht ab, vor allem, als Papst Pius X. 1907 schriftlich festlegte, dass Pilger, die nach Linn kommen und an der Kreuzoktav teilnehmen würden, einen vollkommenen Ablass erhielten – und das kostenlos! Daraufhin stiegen die Pilgerzahlen noch einmal rapide an. Dieses Ablassrecht gilt übrigens bis heute. Es wurde von keinem späteren Papst aufgehoben. Die meisten Nachtwächtergeschichten sind höchst amüsant, manche aber auch gruselig, wie die von der abgeschlagenen Hand. „Ein Einbrecher wurde von einem Hauseigentümer auf frischer Tat erwischt. Der fackelte nicht lange und nagelte die Hand des Mannes an die Tür. Dann ging er schlafen. Als er am nächsten Morgen an seine Haustür kam, war der Einbrecher weg – aber die abgerissene Hand war noch da…
Bis heute hat Heinz-Peter Beurskens rund 20.000 Teilnehmer unterhaltsam mit Anekdoten „gefüttert“ und das alles ehrenamtlich. Die Einnahmen aus seinen Führungen kommen den Linner Kindergärten und der bei Liebhabern hoch geschätzten Historischen Musikinstrumentensammlung im Jagdschlösschen zugute, die er uns jetzt zeigen möchte. Wir schlendern über den Burgvorhof, vorbei an einem liebevoll gepflegten Bauerngarten mit Minze, Salbei und Majoran, Himbeeren, Stangenbohnen und Porree. „Alles wird im Auftrag der Museumsverwaltung geerntet“, erzählt Heinz-Peter Beurskens.
Im Jagdschloss ist Musik drin
Am gelb getünchten Jagdschloss mit den grünen Fensterläden machen wir Halt. Zwei Stämmchen mit roten Rosen rahmen das Hauptportal ein, durch das in den zurückliegenden Jahrhunderten viele bekannte Krefelder geschritten sind. Um 1740 war es zunächst sein Erbauer, Kurfürst Clemens August, der allerdings selten dort weilte. Später lebten dort der Seidenfabrikant Philipp de Greiff und seine Frau Marianne ter Meer mit ihrer Tochter Marianne (spätere „Rhodius“). Sie zog 1850 in ihr Elternhaus zurück. Nach ihrem Tod 1902 erbte ihre Cousine, Maria Schelleckes, das Anwesen. Ihr Miterbe, Gustav Schelleckes, verkaufte die Liegenschaft 1924 für 506.000 Mark an die Stadt Krefeld, blieb aber noch bis zu seinem Tod dort wohnen. 1929 wurde das Jagdschloss in ein Museum umgebaut, die Wohn- und Schlafräume blieben in ihrem Ursprung erhalten. Erster hauptamtlicher Museumsleiter wurde Prof. Dr. Karl Rembert. Seitdem kann man alle Räume und die Mechanische Musikinstrumentensammlung besichtigen.
Jeden Sonntag und feiertags um 14 Uhr werden die Instrumente ausführlich vorgeführt. Noch vor der Tür, begrüßt uns der Klang des Glockenspiels aus Meißener Porzellan an der Fassade, drinnen dann eine Vielfalt bunter Instrumente wie ein Symphonion, Handorgeln, die Harmonika „Tanzbär“ sowie ein Pianola und eine Clarabelle-Orgel, die für insgesamt 37.000 Euro „Nachtwächtergeld“ restauriert wurden, wie uns Hans-Peter Beurskens stolz verrät. Ein Caféhausorchestrion sei noch in Rüdesheim zur Restaurierung. Geschätzte Kosten: über 30.000 Euro. Ich bleibe an einer alten Musikbox stehen und betrachte die Liedauswahl: „Der letzte Walzer“, das „Spanienleed“ von den Bläck Fööss, „Good bye my love“ von Demis Roussos und „Tom Dooley“. So bunt kann unsere Tour durch Linn auch weitergehen. Der Nachtwächter bleibt noch ein bisschen an unserer Seite und wird uns auf dem Weg zur Ritterklause mit weiteren tollen „Histörchen“ versorgen.
Erster Flachsmarkt und Ponchos aus Peru
Quasi zum Mitnehmen erwartet uns ein Postkartenmotiv direkt am nahe gelegenen Andreasmarkt. Auf diesem pittoresken Platz mit den bunt gestrichenen Häusern fand 1975 der erste Flachsmarkt statt. Ich erinnere mich noch gut an den Stand des niederländischen Klompenmachers. Meine Eltern kauften meiner Schwester und mir damals ein paar Holzklompen, die wir zuhause bemalten. Ein Jahr später trugen wir sie zu Karneval stolz als „niederländische Meisjes“. Die Klompen blieben uns lange erhalten, auch wenn wir sie nur zum Verkleiden anzogen. Dafür holten wir sie aber regelmäßig zusammen mit unseren Hollandhauben und den gesteiften langen Röcken aus der hölzernen Kostümkiste im elterlichen Partykeller. Eine deutlich bessere Lagerung erfahren die Textilien, die seit 1981 im Deutschen Textilmuseum auf dem Andreasmarkt aufbewahrt werden. Das Museum enthält eine der international bedeutendsten Sammlungen historischer Textilien und Bekleidung. Über hundert Jahre vorher war übrigens schon der erste Sammlungsteil aus Mannheim nach Krefeld gekommen. Man hatte nämlich festgestellt, dass Studierende der „Höheren Webschule Crefeld“ eine Studiensammlung benötigten. So kaufte die Stadt Krefeld die ersten knapp 4.000 Objekte, aus denen mittlerweile 30.000 geworden sind. Heute umfasst die Sammlung Textilien aus allen Kontinenten, Kulturen und Zeiten.
Die aktuelle Ausstellung heißt „Peru – Ein Katzensprung. Die Sammlung Präkolumbischer Textilien“ und ist bis zum 23. April 2023 zu sehen. Museumsmitarbeiterin Andrea Sturm dazu: „Wir erkunden in unserer Sammlung schlummernde Textilien aus Südamerika. Aufgrund ihrer Vielfältigkeit in Webtechnik und Gestaltung waren sie von Anfang an ein wichtiger Bestandteil der Sammlung, als sie noch für die Lehre an der ‚Höheren Webschule Crefeld‘ genutzt wurde. Inzwischen deckt sie einen Zeitraum der peruanischen Textilgeschichte zwischen dem 6. Jahrhundert vor Christus bis ins 20. Jahrhundert nach Christus ab und hatte spürbaren Einfluss auf das Modedesign der Nachkriegszeit.“ Die Darstellungen reichen von menschlichen Figuren über abstrahierte, geometrische Motive bis zu Tieren wie Vögel, Lamas, Schlangen, Fischen und Katzen. Und das Außergewöhnliche ist: Farben und Muster sind immer noch so atemberaubend wie zur Zeit ihrer Herstellung.
Ein Schlangenkopf und eine spiegelverkehrte Hausnummer
An den Andreasmarkt grenzt die Margaretenstraße. Auf der Ecke lagen früher – genau gegenüber – das Sonntagsfrühschoppenlokal meines Vaters, wo er 1966 mit weißem Seidenschal mit Freunden meine Geburt begossen hat und das Vereinslokal meiner Mutter. Hier hat sie sich noch vor zehn Jahren mittwochs nach dem Turnen mit ihren Turnschwestern auf ein Alt-Schuss getroffen. Heute sind die Gaststätten „Kossing“ und „Be de Buer“ Wohnhäuser. Das Kneipensterben hat auch in einem touristischen Kleinod wie Linn seine Spuren hinterlassen. Aber ein Kneipenhighlight gibt es noch. Dort kehren wir zum Schluss unserer Tour ein. Jetzt biegen wir aber erst einmal in die Margaretenstraße ab und lassen uns vom Charme des schiefen und krummen Fachwerkhauses mit der Nummer 19 umhauen. Auf einer Tafel am Mauerwerk ist zu lesen, dass es sich um ein Kaufmannshaus aus dem Jahr 1665 handelt. Auffallend sind die Holzläden, auch „Schlagläden“ genannt. Heinz-Peter Beurskens weiß: „Solche Läden wurden immer dann eingesetzt, wenn man kein Geld für Fensterglas hatte. Die Läden passten genau in die Fensteröffnung und schützten somit vor Kälte.“ Direkt nebenan eine weitere Kuriosität: Mit seinem weißen Kalkputz wirkt das Haus aus dem Jahr 1601 unspektakulär. Spektakulär ist aber die Geschichte, die uns der Nachtwächter erzählt: „Nach der Eingemeindung nach Krefeld wollten die Linner so schöne Häuser haben wie die Seidenbarone in Krefeld. Dafür haben sie das ursprüngliche Fachwerk verputzt und ihrem Haus einen künstlichen Giebel aufgesetzt.“
Im unteren Bereich entdecken wir eine Holztür, die aussieht wie eine Kellertür. Aber wir lernen: Das ist eine „Hochwassertür“. Der Linn-Kenner klärt uns auf: „Die Häuser in Alt-Linn hatten wegen der Hochwassergefahr keine Keller. Diese Holztüre wurde bei Hochwasser geöffnet, damit das Wasser das Haus umspülen konnte und den Druck vom Mauerwerk nahm.“ Abergläubige Linner hatten da allerdings noch eine andere Lösung: Sie brachten einen Schlangenkopf an ihrem Treppengeländer an und hofften so, vor Hochwasser geschützt zu sein. Am Anfang der Margaretenstraße ist ein Beispiel zu sehen. Wo wir gerade beim Aberglauben sind: Schräg gegenüber hängt eine spiegelverkehrte Hausnummer „4“. Das sollte vor der Pest schützen.
Schmal aufgestellt mit 3,75 Metern Hausbreite
Auf der Margaretenstraße steht auch das älteste Haus von Linn, Baujahr 1526. Die Fassade trägt ein zartes Gelb – Understatement? Da sind die beiden Lila-Laune-Häuser ein paar Meter weiter schon etwas anderes. Sie gehören zu den schmalsten des Ortes und wurden irgendwann von ihrem Eigentümer zu einem Wohnhaus umgebaut. Direkt gegenüber wohnt Juliane Winkelmann mit ihrem Mann in Mauern aus dem Jahr 1850 – ebenfalls eher schmal aufgestellt: „Unser Haus ist 3,75 Meter breit. Unten sind Essbereich, Küche und Gäste-WC, in der ersten Etage das Wohnzimmer und ein Ankleidezimmer und in der zweiten Etage Schlafzimmer und Badezimmer.“ Seit elf Jahren genießt das Ehepaar das Leben auf 80 Quadratmetern ohne Hof oder Garten. „Wir haben aber einen Schrebergarten in der Nähe“, lacht Juliane Winkelmann, und wir freuen uns mit ihr. Ein Teil der Linner Schrebergärten liegt mitten im Park und grenzt unmittelbar an den äußeren Burggraben – eine schönere Lage gibt es in ganz Krefeld wohl kaum.
Das Geheimfach im Linner Kreuz
Jetzt muss der Linner Nachtwächter nach Hause. Wie praktisch, dass er auf dem Margaretenplatz wohnt, der unser nächstes Ziel ist. Der Platz hat, wie auch die Margaretenstraße, seinen Namen von der katholischen Kirche Sankt Margareta, deren erster Gottesbau hier von 1309 bis 1819 gestanden hat. Am Rand der freigelegten Fundamente mit Blick auf den Glockenturm der heutigen Pfarrkirche, die um 1820 erbaut wurde, erzählt uns Heinz-Peter Beurskens, dass eine der vier Glocken zu den ältesten Deutschlands gehört. Sie stammt aus dem Jahr 1275. Dann deutet er auf die Spitze des Glockenturms: „Über den großen Glocken hängt das ,Arme-Sünder-Glöcklein‘. Das wurde immer dann geläutet, wenn ein zum Tode Verurteilter zum Richtplatz am Hafen geschleift wurde.“ Beim Anblick der Kirche kommen wir noch einmal auf die Pilger zu sprechen, die das Linner Kreuz verehrten. 1950 hat man bei der Restaurierung zwischen den Schulterblättern des Kreuzes ein Geheimfach entdeckt. In einer Art Schublade war eine Holzreliquie, die dafürspricht, dass dieses Kreuz das Kreuz aus der allerersten Kirche auf dem heutigen Margaretenplatz ist. Außerdem fand man zwei Knöchelchen darin, ein Finger- und ein Fußknöchelchen. Sie sollen vom Heiligen Matthias und der Heiligen Margareta stammen. Damit schlösse sich der Kreis: In der Pfarre Sankt Margareta gibt es eine aktive Sankt Matthias Bruderschaft, die jedes Jahr zum Grab des Apostels Matthias nach Trier pilgert.
Linner Ritterrunde
Wir wenden uns nach rechts und stehen vor der Ritterklause der Linner Ritterrunde. 1980 wurde sie als gemeinnütziger Verein von historisch interessierten Linnern gegründet, um das Mittelalter aufleben zu lassen und regelmäßig beim überregional bekannten Flachsmarkt sowie beim Burg-, Trachten- und Heimatfest für Furore zu sorgen. Vom 12. bis 15. August 2023 ist es wieder so weit. Dann präsentieren sich alle Mitglieder, rund 70 Frauen, Männer und Kinder zwischen einem Jahr und stolzen 80, um drei Jahrhunderte lebendige Geschichte darzustellen. Die Linner Ritterrunde ist ein echter Familienverein und Teil der Historischen Gruppe, die aus 13 Einzelgruppen wie Landsknechten, Falknerinnen, Hirten oder der Gräfin von Kleve mit Gefolge besteht und jedes Mal das Highlight beim Linner Schützenfestumzug ist. Unser Highlight heute sind die Ritter. Vor der Holztüre begrüßen uns Ritter Odo, im normalen Leben Lebensmitteltechniker, und Wehrbürger Volker, der Soziale Arbeit studiert. Ritter Odo verkörpert einen stattlichen, adligen Kämpfer aus der Zeit um 1000 mit reich beschlagenem Helm, 15 Kilo schwerer Panzerung, verziertem Gürtel und Messer. „Eine solche Ausrüstung inklusive Waffen kostet schnell rund 1.000 Euro, hält dafür aber auch ewig“, schmunzelt Odo. Volker stellt einen Wehrbürger um 1380 dar, der nichts mit den „Wehrbürgern“ heutiger Tage zu tun hat. „Ich verkörpere einen Mann, der sich zum Wehrdienst gemeldet hat und als eine Art Polizist auf die Stadt aufgepasst hat.“ Volker trägt ebenfalls ein Kettenhemd, das aber nicht so massiv gestrickt ist, einen Dolch zur Verteidigung und ein Arbeitsmesser. Alle Vereinsmitglieder legen Wert auf eine möglichst originalgetreue Rekonstruktion ihrer Gewandungen und greifen dafür auf Grabtafeln Adliger, Originalzeichnungen aus dem späten Mittelalter und auch Datenbanken zurück. Adlige Kämpfer waren am pompösesten ausgestattet, wie auch Frankenfürst Arpvar aus Gellep. „Wir verarbeiten dafür schon mal Seide und Goldfäden. Das geht natürlich ins Geld“, gibt Odo zu. 15 historisch nachweisbare Personen haben in der Linner Ritterrunde ihre Pendants gefunden, angefangen im frühen 12. Jahrhundert mit Gerlach de Linne über das
14. Jahrhundert mit Mechthild von Geldern bis zum Erzbischof und Kurfürst zu Köln, Graf Friedrich III von Saarwerden (und Gründer der Universität zu Köln), der bis ins frühe 15. Jahrhundert gelebt hat.
Das Tor ins Mittelalter
Odo öffnet die Tür zur Ritterklause, wo man sich regelmäßig trifft, um Gewandungen und Waffen herzustellen oder auszubessern, Ritterlager vorzubereiten, Versammlungen abzuhalten oder einfach zu feiern. Wir betreten einen kleinen, sehr einladenden Innenhof. In einem überdachten Nebenraum mit Werkstatt lagern Feuerholz, Zelte und weitere Utensilien für Ritterlager. „Vier bis fünf Mal im Jahr schlagen wir woanders unsere Zelte auf, unter anderem auf dem Mittelaltermarkt am Kloster Graefenthal in Goch oder beim Ritterlager auf Gut Heimendahl in Kempen“, erzählt
Volker. Jetzt betreten wir den großen Versammlungssaal mit Sprossenfenstern und langem Holztisch, an den sich ein weiterer Raum anschließt, in dem Fahnen und Ritterhelme dekorativ aufbewahrt werden und ein Gobelin die Wand ziert, der aus dem Rittersaal der Burg Linn stammen könnte. Dahinter ein kleiner Schankraum mit Minitheke samt Zapflanlage und Dartscheibe. „Wir machen es uns schön gemütlich hier“, freut sich Odo und holt zwei Steinkrüge mit dem Linner Stadtwappen hervor – historisch nicht ganz echt, aber eine schöne Idee. Das Bier dient der Stärkung vor einem kleinen Schaukampf im Burginnenhof, den sich Odo und Volker gleich liefern werden.
„Wir üben uns vor allem im Schwertkampf, nutzen auch Äxte und Speere“, erzählt Odo. Mittelalterliche Kampftechniken kann man in Workshops erlernen, es gibt auch entsprechende Filme und Bücher, in denen der Schwertkampf oder das Fechten erläutert werden. Trainiert wird normalerweise im Burgpark. Aber spätestens, wenn man die hölzerne Brücke zur Burg betritt, ist man ganz nah dran an einer Zeit, als es hier noch leibhaftige Ritter und Burgherren gab. Im Innenhof, vor den Augen verwunderter Burgbesucher, liefern sich Odo und Jörg einen wilden Schaukampf, der kraftvoll geführt wird und gefährlich aussieht. Hier, unterhalb des mächtigen Burgfrieds, zwischen Rittersaal und Burgküche, scheint die Zeit für einige Minuten stehenzubleiben. Die Faszination Mittelalter packt mich wieder, und ich erinnere mich, als ich als sechsjährige Wappenträgerin mit Pagenmütze und weißer Feder oder später als Reiterin in einem „Sisi“-Outfit und dann als „Ehrendame“ im weißen langen Kleid in der Königskutsche am Linner Burg-, Trachten- und Heimatfest teilgenommen habe. Gelebte Geschichte kann so schön sein…
Die kleine Linner Kunstmeile
Nach der Kunst des mittelalterlichen Schwertkampfes möchte ich mir die kleine Kunstmeile auf der Linner Rheinbabenstraße ansehen. Aus einem Schaufenster lacht uns eine Kuh entgegen, ein Lieblingsmotiv der Linnerin Sabine Liesefeld. Im Atelier Widerborst von Nicky Schwarzbach kann man Objekte, Fotografien und Installationen sehen, wie von der Decke hängende Marmeladengläser mit verschiedenstem Inhalt. Und in ihrem Keramikatelier zeigt Karin Habermann Vasen, Schalen und Objekte. Nicht immer haben alle Ateliers geöffnet. Das Atelier an der Burg schon. Dort bin ich mit Daniela Küpper verabredet. Die gebürtige Essenerin malt mit Acryl auf Leinwand. Sie nutzt dafür aber keine Pinsel, sondern kleingeschnittene, gefaltete Pappen aus ausgedienten Schachteln. In dem hellen, freundlichen Ladenlokal stehen dutzende Bilder in fröhlichen Farben. Ich habe selten so viele schöne Motive auf einmal gesehen. Genau diese positive Ausstrahlung lieben auch die Kunden der Künstlerin, zu denen Linner, Linn-Besucher, aber auch langjährige Kunden aus dem Ruhrgebiet zählen. Am liebsten malt Daniela Küpper abstrakte Menschen, Blumen, Tiere und Natur. Bei unserem Besuch arbeitet sie gerade an einem Bild mit dem Thema „Wasser“. Es gehört zur Serie „Feuer, Wasser, Erde, Luft“ und hat – wie auffallend viele ihrer Bilder – ein quadratisches Format. Ein wichtiger Bestandteil der Linner Kunstmeile ist für mich der Heimatbrunnen an der Pappelallee/Am Mühlenhof. Auf einem runden Platz, umrahmt von Sitzbänken, markiert er den Anfang des Linner Stadtgrabens. Von oben sprudelt Wasser in drei Bronzeschalen, die mit Bildern von der Bataverschlacht um 69 nach Christus bis zum späteren Flachsmarkt verziert sind. Die Komposition des Brunnens ging von der Idee aus, eine „erzählende“ Plastik zu schaffen, die die wichtigsten Stationen der Linner Geschichte veranschaulicht. Bildhauerin Dr. Marianne Kiesselbach, die Großmutter von Alexander Raitz von Frentz, dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Flachsmarkt, hatte den Brunnen 1984 entworfen und damals auf jegliches Honorar verzichtet.
Außenstation des Krefelder Zoos
Vom Heimatbrunnen aus gehen wir nun entlang des Mühlenbachs in den Greiffenhorstpark. Der wunderschöne Landschaftsgarten, wie auch der Park rund um die Burg, sind Entwürfe des ehemaligen Düsseldorfer Hofgartendirektors Maximilian Friedrich Weyhe. Hinter riesigen alten Bäumen taucht am Ende ein altrosafarbenes achteckiges Gebäude auf, das Greiffenhorst-Schlösschen. Seidenfabrikant Cornelius de Greiff ließ es um 1840 als Jagdschloss errichten. Mittlerweile finden dort immer mal wieder Ausstellungen, Lesungen und Konzerte statt. Das Schlösschen wurde vermutlich nur sehr kurz von de Greiff genutzt, denn der Hausherr hielt seine Festessen nach den Jagden lieber im gegenüberliegenden Hausenhof ab. In dem alten Gutshof ist seit 1995 die Außenstation des Krefelder Zoos untergebracht, wo wir nun einen Rundgang mit Tierpflegerin Christine Oswald machen werden. Erinnerungen werden wach, als ich den Vorplatz mit den knirschenden Kieseln betrete und auf die halbrunden petrolfarbenen Holztore schaue. In meiner Fantasie höre ich das freudige Wiehern meines Pflegeponys Bella, das hier zusammen mit seinen Artgenossen Kobold, Franz, Nussi und Bronco stand. Herrlich waren unsere Ausritte in die nahegelegenen Felder. Ich bin gespannt, wie es hinter den ehemaligen Stallungen aussieht. Die alte Obstwiese ist noch da, aber was hat sich verändert? Heute leben hier schließlich andere Tiere.
Begleitet von ihren Hunden Pelle und Lotta begrüßt uns Christine, die zusammen mit einer weiteren Pflegerin und deren Familie das Anwesen bewohnt und 24 Stunden am Tag für die Tiere da ist. Sie erklärt, warum der Zoo überhaupt eine Außenstation braucht: „Hier werden Zootiere auf Umzüge in andere Zoos vorbereitet oder übergangsweise einquartiert, wenn sie krank sind, sich mit Artgenossen nicht vertragen oder ihr Gehege im Zoo wegen Umbauarbeiten nicht genutzt werden kann. Zuchtpaare, etwa von seltenen Tieren, können hier in Ruhe einen Bestand aufbauen. Der Hausenhof dient auch als Quarantänestation, bevor neue Tiere in den großen Zoo umquartiert werden.“
Ein Gepard auf dem Golfplatz
Einer der spektakulärsten Bewohner war das Baumkänguruh Belißi aus Melbourne. Das konnte sich dort in aller Ruhe an die neuen Witterungsverhältnisse und die Pfleger gewöhnen. Zeitweise lebten auch Geparde und Mähnenwölfe auf dem Hausenhof. Zoo-Pressesprecherin Petra Schwinn hat mir mal erzählt, dass die Tiere manchmal Ausflüge auf den angrenzenden Golfplatz gemacht haben: „Es kam vor, dass die Golfer bei ihrer Morgenrunde eine Begegnung mit einem Gepard hatten. Gottseidank ist alles immer gut ausgegangen.“ Heute können wir beruhigt durch die Stallungen und das Außengelände gehen. Auf einer Wiese grasen bretonische Ouessant-Schafe, deren Aufgabe es ist, die verschiedenen Wiesen runterfressen. Hinter dem Tor, wo wir als junge Mädchen damals den Mist unserer Pferde abluden, schauen wir in den alten Obstgarten mit Äpfeln, Birnen und Pflaumen. Angelockt durch unseren Besuch, wagt sich der majestätische afrikanische Spießbock „Mtoto“ aus seinem Backsteinstall und vollführt wilde Galoppsprünge. „Im Zoo war er unentspannt und hatte Stress mit anderen Artgenossen. Deshalb haben wir ihn hier in die Sommerfrische geholt und können beobachten, wie er von Tag zu Tag ruhiger wird“, erzählt die Tierpflegerin. In den Außenvolieren zeigt sie uns einen afrikanischen Kiebitz, der auf ein Weibchen wartet, ein Haubenseidenkuckuck-Pärchen und Straußwachteln, deren Männchen durch ihre roten Kopffedern auffallen. „Die Wachteln sind im Vogelhaus im Zoo geschlüpft und werden hier vor ihrer Weiterreise in einen französischen Zoo gesundheitlich gecheckt“, weiß Christine und führt uns eine Stallung weiter. In einer Hängematte hat sich unter einem Jutesack der jüngste Neuzugang versteckt: ein junger Ameisenbär, der sich in Ruhe eingewöhnen soll. Wir möchten den Tieren nun auch ihre Ruhe gönnen und verabschieden uns aus diesem Bauerngartenidyll.
Hermanns Hausmannskost
Dreieinhalb Stunden sind wir nun schon unterwegs, und ein kleiner Hunger stellt sich ein. Unsere letzte Station ist daher die älteste Gaststätte von Linn, das urige „Em Kontörke“. Es stammt, wie das Schild über dem Eingang zeigt, aus dem Jahr 1869. Hermann Balk vertritt die mittlerweile 4. Inhabergeneration und führt die Familientradition zusammen mit seiner Frau Michaela fort. Er erklärt, wie die Gaststätte zu ihrem Namen gekommen ist: „Kontörke kommt von ,Kontor‘. Das heißt ,Büro‘. Hier haben früher Handelsvertreter mit Fuhrwerkern Geschäfte gemacht, als sie auf dem Weg nach Uerdingen eine Pause einlegten.“
„Pause“ ist unser Stichwort: Wir nehmen im ersten von drei Gasträumen Platz, wo Holzstühle an blankgescheuerten Tischen stehen und in jeder Ecke Dinge an die lange Vergangenheit des Hauses erinnern, angefangen beim alten Kachelofen über Kaffeekannen und Küchengeräte, einen Röhrenfernseher und Geweihe bis zu Tellern und Bildern. „Das sind alles Originale, die wir, und auch schon meine Großeltern, über die Jahre gesammelt haben. Jedes Stück hat seine Geschichte“, erzählt Hermann Balk mit glänzenden Augen.
Seltenheitswert hat auch die historische Kegelbahn aus dem Jahr 1954, die heute noch mit Handaufstellung betrieben wird.Während sich Michaela Balk im „Kontörke“ um die Gäste kümmert, steht Inhaber Hermann Balk als gelernter Metzger am Herd und kocht gutbürgerlich. Da dürfen gute Butter und Speck natürlich nicht fehlen. Ein niederrheinisches Traditionsgericht ist „Spieß“. „Das sind Endiviensalat und Kartoffeln untereinander. Das Rezept stammt von meiner Großmutter, Albertine. Dafür werden Kartoffeln gekocht und Endiviensalat herzhaft mit Essig, Öl, Salz, Pfeffer angemacht. Das alles wird nachher mit einer braunen Soße untereinander gehoben und mit geräuchertem, durchwachsenen Speck abgeschmeckt“, verrät der Koch.
Wir genießen das Traditionsgericht bei einem frischen Bier aus der historischen Zapfsäule. Dabei denke ich an den jüngsten Flachsmarkt-Samstag zurück, den meine Familie und ich im „Kontörke“ seit über 20 Jahren traditionell bei Musik und guter Laune beschließen.
Text: Petra Verhasselt | Fotos: Michael Ricks für NiederRhein Edition