Die Geschichte eines Mannes der mit Unternehmergeist und Weitblick ein kleines Dorf am Niederrhein aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und im ganzen Land bekannt gemacht hat.
Das Vermächtnis des Spargelmajors
Der Erste Weltkrieg ist endlich zu Ende. Die Monarchie bricht zusammen, die Weimarer Republik wird gerade erst begründet. Eine Zeit der Neuorientierung, der Hoffnung und des Wiederaufbaues. Voller Erwartung, Tatendrang, Abenteuerlust und vor allem mit der Sehnsucht nach Heimat im Herzen ziehen der Ex-Generalstabsoffizier Major Dr. jur. Walter Klein-Walbeck und seine junge Gemahlin Marianne von Leipzig nach Walbeck an den Niederrhein. Dort wollen sie ihr Erbe antreten – das Rittergut Schloß Walbeck. Die Ernüchterung folgt allerdings auf dem Fuße.
Bei ihrer Ankunft am Niederrhein müssen sie eine herbe Enttäuschung erleben und von der romantischen Vorstellung über das Leben in der „Wildnis“ Abschied nehmen. Sie finden ein Rittergut vor, das von den Besatzungstruppen in einem völlig verwohnten und verwahrlosten Zustand zurückgelassen wurde. Wahrscheinlich hätten sie am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht, aber das ist unmöglich. Walter Klein-Walbeck, der promovierte Jurist, hat erst im Jahr zuvor seinen Abschied vom Militär genommen und auch das Angebot, als Jurist in den USA zu arbeiten, ausgeschlagen. Alles um sich ganz und gar als Gutsbesitzer um seine Ländereien zu kümmern. Ein Zurück gibt es für ihn also nicht mehr. Was aber anfangen mit dieser geerbten Wildnis am Niederrhein, zu der auch zahlreiche Äcker und Weideland gehören?
Walter und Marianne versuchen es zunächst mit der Zucht von Fohlen, Kälbern, Schweinen und Küken. Der Erfolg hält sich aber in Grenzen. Die immer schneller voranschreitende Inflation tut ihr übriges und so ist das Barvermögen der Klein-Walbecks bald aufgebraucht. Das junge Paar steht nun so gut wie mittellos da. Für das mitgereiste Personal ist das zu viel. Sie machen sich bei Nacht und Nebel auf und davon. Ganz auf sich allein gestellt, wird das Paar, wohl zum allerersten Mal überhaupt, mit dem Ernst des alltäglichen Lebens konfrontiert.
»Jeder Rückschlag enthält ein Samenkorn des Erfolgs.«
(E. Lejeune)
Mitten in diesem Dilemma erreicht Marianne der Brief ihres frühreren Tanzstundenfreundes von Böttner, der es mittlerweile zum Berliner Gartendirektor gebracht hat. Während seiner Militärzeit sei er in Wesel gewesen und kenne daher die arme Gegend am Niederrhein sehr gut, schreibt er ihr. Als gut gemeinten Rat sendet er seiner Tanzstundenliebe Spargelsamen der eigenen Züchtung: „Böttners Riesen“.
Als der Major a.D. davon erfährt,erinnert er sich wieder an seine Zeit als Nachrichtenoffizier im Hauptquatier des deutschen Heeres in Antwerpen. Die Erinnerung an die belgischen Spargelanbaugebiete, die sandigen Felder und den dort üppig wachsenden Spargel, lassen ihn den sandigen und mageren Boden seiner Ländereien plötzlich mit ganz anderen Augen sehen. Wenn es mit der Viehzucht schon nicht geklappt hat, dann kann ein Versuch mit dem Ackerbau nicht schaden. Gesagt, getan. Überzeugt davon, diesmal den richtigen Weg zu gehen – was anderes bleibt ihm auch gar nicht übrig – sät der Neu-Bauer Klein-Walbeck die Spargelsamen zunächst in seinem Schlossgarten aus und schon bald kann er seinen eigenen Spargel ernten. Mit preußischer Disziplin startet der Major nun richtig durch und besucht die nahegelegene Landwirtschaftsschule, um noch mehr über die Zucht von Spargel und den richtigen Dünger zu erfahren.
Delikatesse oder Volksgemüse?
Spargel ist in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts keineswegs überall beliebt und schon gar nicht als erschwingliches „Volksgemüse“ bekannt, daher beobachten die niederrheinischen Klein-Bauern das Treiben auf dem Schloss mit Spott und Argwohn. Was sollte so ein Zugereister, so ein studierter „Möchtegern-Bauer“ schon zustande bringen?! Als die Spargelbeete im Schloßgarten aber immer zahlreicher und länger werden und der Major a.D. auch noch eine gut Ernte einfährt, ist die Neuigier einiger Walbecker nicht mehr zu bremsen. Sie fangen an zu begreifen, dass man mit der Delikatesse Spargel mehr verdienen kann, als mit den bis dato angebauten Feldfrüchten wie Kartoffeln oder Getreide. Hocherfreut über das erwachte Interesse seiner Nachbarn macht der „Spargel-Major“ sich auf, diese von einer genossenschaftlichen Vereinigung, die im großen Stil Spargel anbaut und vermarktet, zu überzeugen. Mit der beginnenden Weltwirtschaftskrise erscheint vielen diese Idee der rettende Anker zu sein und sie tun gut daran, sich dafür zu entscheiden. Am 1. Januar 1929 gründet Walter Klein-Walbeck gemeinsam mit 55 Kleinbauern, Handwerkern und Arbeitern die „Spargelbau-Genossenschaft für Walbeck und Umgebung“.
Der Ruck, der damit durch das kleine niederrheinische Dorf geht, ist überwätigend. Waren die Walbecker im Frühjahr bisher mit der bescheidenen Hoffnung, das der Ertrag trotz des mageren, sandigen Bodens ausreichend sein würde, hinaus auf ihre Felder gezogen um sie zu bestellen, so ist nun beim ersten Frühjahrssonnenstrahl kein Walbecker mehr zu halten. Auf den 120 Morgen Land rund um das Schloss herrscht emsige Geschäftigkeit und schon die erste Ernte wird ein voller Erfolg und zu Spitzenpreisen auf der „Veiling-Versteigerung“ in Straelen verkauft. „Der Aufschwung steht vor der Tür“ Getreu der Devise: „Wo Geld fließt, fließt auch noch mehr Geld“, werden der noch jungen Genossenschaft nun ohne Probleme die benötigten Kredite zum Ausbau der Spargelfelder bewilligt. Das Erfolgsrezept des Majors a.D., nur besten Qualitätsspargel aus Walbeck in einheitlicher Sortierung auf den Markt zu bringen, bewährt sich. Die hervorragende Qualität des Walbecker Spargels spricht sich wie ein Lauffeuer herum.
Sein guter Ruf und die Spitzenpreise entfachen bald eine Art „Spargelkrieg“ auf den Großmärkten und andere Spargel-Erzeuger bieten ihren „minderwertigeren“ Spargel in alten Kisten aus Walbeck zum Verkauf an – in der Hoffnung ebenfalls einen so hohen Preis wie die Niederrheiner erzielen zu können. Der Betrug fliegt auf und den Walbeckern ist klar; dem Pfusch muss schnellstmöglich ein Riegel vorgeschoben werden. Sie beschließen kurzerhand, ihren Spargel nur noch mit einem geschützten Markenzeichen in den Verkauf zu geben und ab sofort leuchtet ein rotes Emblem mit der historischen Walbecker Bockwindmühle auf den Deckeln der Spargelkisten. Und die Walbecker gehen noch weiter: Auch der Spargel-Absatz im eigenen Dorf soll angekurbelt werden. Nach dem Motto „Unser Dorf soll schöner werden“, packen alle mit an.
Gemeinsam verwandeln sie die „ollen Kneipen“ in ansehnliche Speiselokale, die schon bald Spargel-Freunde von überall her anlocken. Denn durch den Massenanbau ist Spargel nun für „Jedermann“ erschwinglich geworden. 1,50 Reichsmark, das entspricht heute etwa 4,98 Euro, bezahlt man in Walbeck für ein Viertelpfund Spargel mit einem Viertelpfund Schinken und Buttersauce sowie reichlich Kartoffeln. Walbeck, das bis vor wenigen Jahren so gut wie unbekannte kleine Grenzdörfchen ist auf einmal, im wahrsten Sinne des Wortes, in aller Munde.
Es entwickelt sich ein regelrechter Spargel-Tourismus. Sogar die „Kraft durch Freude“-Organisation der nationalsozialistischen Gauämter bietet Busreisen aus dem nahen Ruhrpott an. Für nur fünf Reichsmark erhält man vor Ort ein üppiges Spargelgericht sowie eine Führung über die Spargelfelder. Selbst nach der eigentlichen Spargelsaison und auch im Winter zieht es die Feinschmecker, die dem Spargel verfallen sind, nach Walbeck. Denn dort kann man das köstliche Produkt nun auch das ganze Jahr über, eingekocht und fein säuberlich in Dosen konserviert, einkaufen. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erarbeiten sich die Walbecker so mehr als 1,3 Millionen Reichsmark.
Von Stillstand und Wiederaufbau
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges findet der Erfolgkurs, der bis heute einzigen deutschen Spargelbaugenossenschaft, zunächst ein jähes Ende. Die englischen Besatzer verbieten nach 1945 den weiteren Anbau von Spargel nach der Devise „No Luxus for the Germans“. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Währungsreform 1948 wendet sich aber das Blatt – glücklicherweise. Den Walbeckern ist klar: jetzt oder nie. Wir haben es einmal aus dem Nichts geschafft, also schaffen wir es auch ein zweites Mal. Mit dieser Überzeugung und dem Ziel, ihr Dorf wieder zu dem zu machen, für das es einst so berühmt gewesen war, packen alle, in bewährter Tradition, gemeinsam an. Und es gelingt ihnen. Der gute Ruf des Walbecker Spargels ist nicht in Vergessenheit geraten und immer noch all überall als Spitzenprodukt in sehr guter Erinnerung geblieben.
Die Geschichte des Walbecker Spargelanbaus begann mit 120 Morgen Land auf den Feldern rund um das Schloss. Heute wird das Edelgemüse in Walbeck auf rund 400 Morgen angebaut, das entspricht etwa 100 Hektar. Und wenn der Spargel von Mitte April bis zum 24. Juni Saison hat und tagesfrisch gestochen wird, dann strömen die Menschen von nah und fern in die kleine Gemeinde am Niederrhein.
Neben den Feinschmeckern, die sich auf eigene Faust aufmachen um den Walbecker Spargel zu genießen und dazu oft weite Wege zurücklegen, besuchen im Jahr weit über 150 organisierte Busreisen das berühmte niederrheinische Spargeldorf. Das obligatorische Spargelessen gehört natürlich ebenso zum Programm wie eine Führung durch das Dorf und Exkursionen zum Thema Spargel.
„Die Gnädige“
Der „gute Herr Major“, wie die Walbecker Dr. jur. Walter Klein-Walbeck auch als Zivilist noch bezeichneten, erlebte den Erfolg der von ihm gegründeten „Spargelbau-Genossenschaft“ und die Auszeichnung seines Gutes mit dem Titel „Spargelmustergut des Rheinlands“, bedauerlicherweise nicht mehr mit. Er verstarb urplötzlich und unerwartet bereits 1931, noch bevor die Spargelernte des zweiten Jahres begonnen hatte. Seine Frau Marianne trat an seine Stelle und sorgte mit strenger, aber gerechter Hand dafür, dass das begonnene Werk ihres Mannes weitergeführt wurde. Noch heute spricht man in Walbeck von ihr nur als „die Gnädige“.
Nach ihrem Tod, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, trat der jüngste Sohn Walter in ihre Fußstapfen. Gemeinsam mit seiner Frau Inge und den Walbeckern baute er den Spargelbetrieb nach dem Krieg wieder auf. Das Rittergut blieb bis 1980 in Familienbesitz. Neuer Eigentümer wurde das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands e.V.
Die Enkel und Urenkel des Spargelmajors haben sich mittlerweile aus dem aktiven Spargelanbau zurückgezogen. Sie leben aber nach wie vor auf ihrem Land in unmittelbarer Nähe zum Rittergut und in enger Verbundenheit mit Walbeck und der gemeinsamen Geschichte.
Der Major wäre mit Sicherheit mächtig stolz gewesen – sowohl auf seine Frau Marianne als auch auf die Walbecker, die nie vergessen haben, wem sie ihren bescheidenen Wohlstand zu verdanken haben. Die Kranzniederlegung ihm zu Ehren findet an dem Denkmal statt, das sie ihm 1939 gesetzt haben. Am Dorfrand, da wo einst die Heide begann.
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Herzlichen Dank für die Unterstützung an Frau Dr. Inge Klein-Walbeck, Herrn Franz Allofs und Herrn Kreisarchivar Dr. Andreas Berger und Sylvia Berger.
Text: Sonja Raimann | NiederRhein Edition 01/2008 | Quellen / Bilder: Kreisarchiv Kleve: Familienarchiv Klein-Walbeck, Sammlung Steiger, Frau Dr. Inge Klein-Walbeck, Sonja Raimann.