Die unzähligen Grüntöne eines Mischwaldes, der Duft frischer Tannennadeln, das Klopfen eines Spechts, die grobe Rinde einer alten Eiche und der nussige Geschmack eines Brennnesselblatts – das alles kann man beim „Waldbaden“ erfahren. Wer sich bewusst auf die „Angebote“ des Waldes einlässt, bekommt ein Naturerlebnis für alle fünf Sinne und lernt außerdem Interessantes über die Heilkräfte der Natur. Waldbaden ist eben viel mehr als „Bäume umarmen“. Mein Selbstversuch in der Wankumer Heide bei Wachtendonk und Straelen.
Waldbaden: Ein Selbstversuch
Shinrin Yoku: In die Atmosphäre des Waldes eintauchen
Ein Freitagmorgen, 9 Uhr, auf dem Wanderparkplatz am Scharenbergweg im Naturpark Schwalm-Nette. Die Morgensonne schickt erste wärmende Strahlen über das nahegelegene Maisfeld. Hundebesitzer drehen ihre Runde, und zwei Frauen mit Fahrrädern machen sich fertig für eine Tour. Hier sind Fotograf Michael Ricks und ich mit Wilfried Küsters verabredet. Der Wachtendonker kennt die Gegend in- und auswendig und wird für die nächsten zwei Stunden unser Guide und Lehrer sein. Die Fächer: Biologie, Erdkunde, Psychologie, Naturheilkunde und Geschichte. Und schon trumpft der sympathische Wanderführer ein erstes Mal auf: „Waldbaden ist eine japanische Tradition. Dort heißt das ,Shinrin Yoku‘ und bedeutet ,In die Atmosphäre des Waldes eintauchen‘.“ Eine schöne Beschreibung, die sich heute mit Leben füllen wird.
Rechts vor uns liegt ein Kiefernwald, links ein Laubwald mit blühenden Robinien, die man auch als Scheinakazien kennt – eine wahre Augen- und Bienenweide. Die Blätter der Robinie locken mit ihrem intensiven Duft Bienen an, die daraus Akazienhonig produzieren, und die Früchte sind bei Vögeln sehr beliebt. „Bis zu fünf Kilometer weit tragen sie die Früchte“, weiß Wilfried Küsters und erklärt damit, warum sich gerade hier diese Laubbäume überall selbst säen. Das ist auch so gewollt. Einige hundert Meter weiter öffnet sich vor uns eine eingezäunte Heidelandschaft mit zarten, grasgrünen Kiefernstämmchen, Sträuchern, Gräsern und Birken. Alles sieht sehr gepflegt aus, obwohl die Natur sich auch hier selbst überlassen wird. Den „Rückschnitt“ übernehmen Konik-Wildpferde. „Diese robuste Rasse mit mausgrauem Fell und Aalstrich kommt aus Polen und ist eine Rückzüchtung des Urpferdes“, erzählt unser Naturführer. Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt setzt die Ponyrasse zur natürlichen Beweidung in Naturschutzgebieten ein. Übrigens auch auf dem Gelände des ehemaligen Munitionsdepots in Brüggen-Bracht. Die Koniks finden in der Landschaft ausreichend Nahrung und können sich in Unterständen vor Kälte und Regen schützen. Ihre Tränke ist der nahegelegene Schürkesbach. Ein paar hundert Meter weiter entdecke ich an einer Birke tatsächlich eines der Wildpferde. Hinter der Kurve dann vier weitere. Sie grasen friedlich, ein Konik döst liegend im Gras. Wir nähern uns behutsam, um sie nicht zu erschrecken, aber die Tiere sind völlig entspannt. Also gehe ich vorsichtig weiter an den Zaun heran. Neugierig kommt das erste Pony näher, dann ein zweites. Ich strecke meinen Arm aus, und warme Nüstern blasen ihren Atem auf meine Hand. Ein beruhigendes Gefühl. Auch die Wildpferde scheinen Waldbaden zu praktizieren…
Fledermäuse und „Chicken of the Wood“
Wir verabschieden uns von den Ponys und ziehen ein Stück weiter. Mitten in der Heidelandschaft tauchen auf einmal seichte, grüne Erdwälle auf. Es sind die Überreste alter Bunker. Unser Guide klärt uns auf: „Hier sollten mal Pershings stationiert werden. Gottseidank ist das nie geschehen. Im Jahr 2000 wurde alles abgerissen, und der Bund als Eigentümerin hat das Gelände zum Naturschutzgebiet erklärt.“ Beim näheren Hinsehen entdecken wir unter wucherndem Grün Bunkertüren. In sie wurden schmale Schlitze für die neuen Bewohner eingelassen: Fledermäuse. „Bis zu 50.000 sind es im Winter. Alle werden per Laserüberwachung gezählt“, sagt Wilfried Küsters. Bis zu 50 Kilometer kann eine Fledermaus übrigens in der Nacht zurücklegen.
Durch Achtsamkeit mehr erleben
Wir schlendern weiter durch den Wald und bleiben in einer „Naturwaldzelle“ stehen. Das ist ein natürlicher Urwald in einem Naturschutzgebiet, in dem Totholz liegen bleibt und sich Moos, Flechten und Pilze frei ausbreiten sollen. Prompt sehen wir einen Schwefelporling. Er bildet sich an Baumrinden und hat eine schwefel-gelbe Farbe. Man nennt ihn auch „Chicken of the Wood“, weil er wie Hühnchenfleisch schmeckt. „Man muss ihn nur eine Stunde lang kochen und dann in Streifen schneiden“, verrät unser Waldführer, der während unserer Tour noch jede Menge weitere kulinarische Überraschungen auspacken wird. Aber er warnt auch: „Hier darf man keine Pilze pflücken, weil wir uns in einem Naturschutzgebiet befinden.“ Das Einhalten der Regeln liegt dem Wachtendonker Naturburschen sehr am Herzen: „Im Wald ist es so wie im Straßenverkehr. Dort darf man auch nicht einfach rote Ampeln überfahren. Dass man in der Natur die Wege nicht verlässt und keinen Müll wegwirft, sollte daher selbstverständlich sein.“
Ich spüre, wie ich mich immer mehr auf den Wald einlasse. Meine Atmung wird ruhiger, meine Lungen öffnen sich und ich habe den Eindruck, dass ich die Düfte der Natur und meine Umgebung intensiver wahrnehme als noch vor wenigen Minuten. Es fühlt sich gut an. Ich verfolge meine Schritte auf dem feuchten Boden und das Knarren der Ästen unter meinen Schuhen. Meine Stimme wird leiser. Ob bewusst oder unbewusst, möchte ich der Sprache des Waldes das Feld überlassen. Wilfried Küsters bestätigt, dass es Frauen leichter fällt, sich auf das Waldbaden einzulassen als Männern: „Sie sind neugieriger, während Männer immer erst einmal denken, sie müssten dem Wald etwas abringen. Früher oder später gelingt es aber auch ihnen, die Natur einfach auf sich wirken zu lassen und zur Ruhe zu kommen. Am Ende haben auch Männer Stress abgebaut. Wenn ich freitagsabends eine Stunde in den Wald gehe, ist danach mein Stress der Woche vergessen. Manchmal mache ich Waldbaden auch als Prophylaxe vor einer anstrengenden Woche, und mit einem Mal sind Zweifel und belastende Gedanken wie weggeblasen.“
Damit spricht der zertifizierte Wegescout einen interessanten Aspekt an: die nachgewiesene Wechselwirkung von Natur und Gesundheit. „Wer schlecht einschlafen kann, sollte es mal mit Waldbaden probieren. Es hilft auch bei Burn-out und Suchterkrankungen. Waldbaden ist im Gegensatz zur Mediation eine ausgezeichnete Achtsamkeitsübung, die jeder machen kann“, betont der 48-Jährige, der in seinem Hauptberuf als Kraftfahrer für einen großen Krefelder Stahlhandel Tag für Tag im Schichtsystem über die Autobahnen Nordrhein-Westfalens rollt.
Achtsamkeit ist die Konzentration auf das Hier und Jetzt, ohne mit den Gedanken in die Vergangenheit oder Zukunft abzuschweifen. Es ist das unmittelbare Erleben natürlicher Reize wie das Riechen von Laub, das Betasten einer alten Baumrinde oder das Spüren der Sonne, die durch Baumkronen scheint.
Wer das zulässt, gibt seinem Körper die Chance, runterzukommen oder zu „resetten“, wie es Wilfried Küsters ausdrückt. Denn er möchte Menschen nicht nur die Natur des Niederrheins nahebringen, sondern ihnen auch zu einem gesünderen Leben verhelfen. Die Heilkräfte des Waldes sind dabei nicht zu unterschätzen. Das werden wir bei unserem Picknick erfahren.
Waldbaden baut Stress ab
Auf einer Lichtung breitet unser Waldführer eine Decke aus, und mit dem Öffnen des Rucksacks beginnt seine Lehrstunde aus der Natur: Früchte, Blumen, Blätter und Birkenwasser werden zu einem Mehrgangmenü, auch für die Seele. Biss für Biss und Schluck für Schluck sensibilisiere ich meinen Geschmackssinn. Dabei spüre ich eine große innere Zufriedenheit und Begeisterung für die Heilmittel aus der Natur. Wilfried Küsters gibt mir den Tipp, mich flach auf die Decke zu legen, die Augen zu schließen und tief durchzuatmen. So liege ich eine Weile da, im Hier und Jetzt. Es gelingt mir tatsächlich, mich auch von den letzten störenden Gedankenfeuern zu befreien. Nach einer guten halben Stunde bin ich bereit für den Rückweg. Der führt vorbei an kreisrunden Spechthöhlen und dem leise sprudelnden Schürkesbach, einem beliebten Laichgebiet von Fröschen. Auf einmal taucht am Wegesrand ein Minifrosch auf. Vor drei Wochen war er noch eine Kaulquappe. Vermutlich hätte ich dieses winzige Wesen einen Tag vorher noch nicht wahrgenommen. Aber jetzt habe ich eben „Waldbaden-Erfahrung“.
Übrigens: Ich habe keinen Baum umarmt. Aber das bewusste Betasten und Inspizieren der Rinde mit ihren vielen verschiedenen Farbschattierungen und das Anlehnen an den alten Stamm haben mir geholfen, zu entschleunigen und meine Batterien wieder aufzuladen. Ein natürliches Reset, das ich nur empfehlen kann.
Text: Petra Verhasselt | Bilder: Michael Ricks | NiederRhein Edition 2021
Wer nun auch auf den Geschmack gekommen ist, der findet online weitere Informationen zum Thema Waldbaden sowie Tipps, Touren und Termine:
www.niederrhein-guides.de
www.bundesverband-waldbaden.de
www.nrw-tourismus.de/waldbaden#shinrinyoku