Einfach mal alles rauslassen

Novum am Niederrhein: Ein Jodelworkshop in Korschenbroich

Text: Petra Verhasselt | Bilder: Michael Ricks | NiederRhein Edition, Ausgabe 01/2019

 

„A-ma-hi-u-ah-i-ehhhhh – A-ma-hi-u-ah-i-ehhhhh“. Ungewöhnlich, aber angenehm und kraftvoll, sind die Töne, die durch die Fenster der Alten Schule in Korschenbroich nach draußen klingen und den kleinen Vorplatz in eine Klangwelt tauchen, die man so am Niederrhein nicht vermutet. Drinnen findet ein Jodel-Workshop statt – jenseits vom berühmten Loriot-Sketch und dem volkstümelnden Bild vollbusiger Sennerinnen in den Alpen. Ein stimmgewaltiges Erlebnis für unsere Redakteurin Petra Verhasselt und unseren Fotografen Michael Ricks.

In einem Kreis stehen völlig entspannt, teilweise sogar barfuß, 12 Frauen und sieben Männer. Einige halten Notenblätter in den Händen, andere jodeln aus dem Kopf. In der Mitte gibt Jodellehrerin Ursula Scribano mit einer Stimmgabel den Takt vor. Die gebürtige Linzerin mit der sympathischen österreichischen Sprachfärbung veranstaltet seit sechs Jahren Jodelworkshops in ihrer Wahlheimat Berlin und anderen deutschen Städten. Kurioserweise hat die Diplomschauspielerin und Stimmtrainerin erst in der Bundeshauptstadt das Jodeln für sich entdeckt und dann schon bald den Chor „Die scheenen Jodlerinnen“ gegründet. Dem trat dann auch die Korschenbroicherin Johanna Bolten bei, die zu dieser Zeit in Berlin lebte. „Ich habe einmal Musical studiert und absolviert, den Beruf aber nicht weiterverfolgt. 2014 spürte ich aber, dass es an der Zeit war, mal wieder etwas mit meiner Stimme zu machen“, erzählt die Niederrheinerin, die jodeln schon immer spannend fand. Als sie 2016 wieder zurück nach Korschenbroich kam, hatte sie zwar ihre alte Heimat wieder, aber regelrechtes Heimweh nach dem Jodeln. „Und weil wir Niederrheiner ja ein bisschen verrückt sind, dachte ich mir: Warum das Jodeln nicht hierherbringen?“, erzählt die quirlige Initiatorin des Jodel-Workshops, der vor zwei Jahren zum ersten Mal stattfand.

»Jodeln ist ein unzensierter stimmlicher Ausdruck von Gefühlen. Im Jodeln kann unsere Stimme wie ein wildes Pferd ,Auslauf‘ finden. Sie kann Dinge tun, die sie sonst nicht darf. Jodeln erfordert Mut, die  Kontrolle abzugeben. Jodeln  verbindet und beseelt.« (Jodel-Lehrerin Ursula Scribano)

 

Aus 16 Teilnehmern wurden 18, und auch beim diesjährigen Workshop Ende Juni werden wieder einige „Wiederholungsjodler“ begeistert dabei sein wie der blinde Physiotherapeut Sascha Erz aus Neuss. Seine Freunde führten gerne das „Jodeldiplom“ aus dem berühmten Loriot-Sketch ins Feld, erzählt er und muss schmunzeln. Denn für den jungen Mann, der auch in einem Chor singt, ist Jodeln kein Witz, sondern etwas ganz Besonderes: „Es ist eine ganz andere Herausforderung, eine ganz andere Art zu singen, mit schnellen Tonwechseln von der Brust- auf die Kopfstimme. Und auch wenn die Stücke keinen Text haben, kann man wunderbar verschiedenste Stimmungen ausdrücken, wie den klassischen Bergfrieden, aber auch pure Lebensfreude. Jodeln kann einen durchs ganze Leben begleiten, vom Geburtstag bis zur Beerdigung.“

Der zentralfrikanische Regenwald ist die Wiege des Jodelns

Wenn man bedenkt, dass Jodeln eine vorsprachliche Verständigungsform der Urvölker war, versteht man die tiefere Bedeutung der „Sprache ohne Worte“. Ursula Scribano klärt auf: „Der zentralafrikanische Regenwald ist das größte zusammenhängende Jodelgebiet der Welt. Dort jodeln seit jeher die Baka-Pygmäen zu verschiedensten Anlässen: mal in Form von rituellen Gesängen, mal durch Signalrufe. Die Stammesangehörigen glauben daran, dass sie sich durch die Kraft ihrer Stimme mit den Tieren und den Geistern verbinden können. Gejodelt wird aber auch nach getaner Arbeit, um vor Gefahren zu warnen oder Tiere wieder zurück in den Stall zu rufen. Meine Theorie zur Entstehung des Jodelns ist, dass männliche Stammesmitglieder den gewöhnlichen Schrei zum Jodelruf weiterentwickelten, um durch diese Form der Potenzbekundung einen oberen Platz in der Hierarchie zu bekommen. Starke, selbstbewusste Männer waren, damals wie heute, attraktiv für die Paarungspartnerinnen“. Sozusagen als Bestätigung stimmen die Hobby-Jodler nun sogenannte „Regenwaldklänge“ an. „A-ma-hi-u-ah-i-ehhhhh – A-ma-hi-u-ah-i-ehhhhh“, schallt es zunächst leise und verhalten, bis sich im Laufe der nächsten Minuten ein Klangteppich aufbaut, der an Tempo gewinnt und in einem beeindruckenden Kanon endet. „Spürt ihr die Vibrationen im Brustkorb?“, fragt die Jodellehrerin und animiert die Kursteilnehmer dazu, ihre Stimmen kraftvoll freizusetzen. „Es tönt nicht nur in die Weite, es tönt auch in uns“, ruft sie in die Runde. Wenn nicht alle so beschäftigt wären mit dem eigenen Jodeln, sie würden zustimmen.

 

 

Jodeln wirkt befreiend auf  Körper und Geist

Im weiteren Verlauf des Workshops folgen Klänge, die dem Jodelverständnis von Laien eher entsprechen. Das Notenblatt mit der Überschrift „Mei Liab“ zum Beispiel enthält einen klassischen bayerischen Jodler, der schon kurze Zeit später dreistimmig gesungen wird: „Jo-la-lom-do-lo-lä-i-di.“ Was leicht und beschwingt klingt, ist konzentrierte Arbeit. „Singen, und vor allem Jodeln, braucht Atemkraft. Diese Atemkraft wiederum braucht Muskelkraft, deshalb verbrennen wir beim Jodeln auch viele Kalorien“, erläutert Ursula Scribano, die hinzufügt: „Durch die Atemkraft werden die Lungen gestärkt. Außerdem löst das schwingungsreiche und obertonreiche Jodeln Spannungen im Atem- und Stimmgeschehen und versetzt unsere Gehirnwellen in eine positive Schwingung.“ Wir lernen: Jodeln wirkt befreiend auf Körper und Geist. Es kann auch therapeutisch eingesetzt werden, zum Beispiel bei Rückenschmerzen und Kurzatmigkeit, aber auch bei Ängsten und Depressionen.

Das kann Teilnehmerin Edith Vobis, sie ist Musikschullehrerin, nur bestätigen: „Mich spricht beim Jodeln an, dass es eine ganz archaische Art ist, alles rauszulassen. Es gibt kein ,Bitte sing leiser‘, sondern man kann einfach seine ganze Kraft in den Jodler legen und sich mal so richtig abreagieren – zumindest, wenn man alleine jodelt. Das mache ich manchmal im Auto, wenn mich niemand hört. Ich habe mich aber auch schon getraut, meinen Kindern etwas vorzujodeln.“

»Jodeln, Rufen und Juchzen sind stimmliche Möglichkeiten, die  in unserer reglementierten  zivilisierten Welt verkümmern. Aber als Sehnsucht bleiben sie  in uns. Jodeln zeigt einen Weg,  diese stimmliche Urkraft in uns  wiederzuentdecken.« (Jodel-Lehrerin Ursula Scribano)

Auch die übrigen Teilnehmer, zu denen Lehrer, Erzieher, Sozialpädagogen und Rentner aus dem Großraum Korschenbroich gehören, können vom Jodeln nicht genug bekommen und freuen sich daher alle sechs Wochen auf den Jodelstammtisch bei Johanna Bolten. Dort werden gelernte Jodler wiederholt und neue ausprobiert. „Wir sitzen zusammen, trinken, essen, lachen und jodeln gemeinsam. Das ist ganz toll. Und immer mal wieder kommen auch neue Interessenten“, freut sich die  Initiatorin. Damit steht dem nächsten Jodel-Workshop nichts mehr im Wege. 

Mehr Informationen über Jodellehrerin Ursula Scribano und ihre Kurse gibt es auch online auf www.singkraft.de.

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