Bildhauer Will Brüll
Eingebettet in einen parkähnlichen Garten in Meerbusch liegt sie, die denkmalgeschützte Turmwindmühle von Bildhauer Will Brüll. Durch das Grün der Bäume schimmern silbern glänzende Plastiken. Auf dem Sockel des Eingangstores deutet eine Skulptur mit wachendem Auge auf das hin, was den Besucher erwartet: das Lebenswerk eines Künstlers, der nach seiner Zeit als Kampfpilot im 2. Weltkrieg seine künstlerische Ausdruckskraft im Werkstoff Edelstahl gefunden hat.
Wir durchschreiten das Herzstück der ehemaligen Mühle: die runde, große, wunderbar warmherzig gestaltete Halle. Wir bleiben „hängen“ an unzähligen Objekten und Bildern. In der gemütlichen Sitzecke vor dem großen Fenster mit Blick auf die Plastik „Solare Konstellation“ im Garten möchten wir den Menschen und den Künstler Will Brüll näher kennenlernen: einen Mann, der mit 92 Jahren soviel Lebenslust, Energie und Humor versprüht wie ein Mittdreißiger.
Sie werden „Will“ genannt. Wie kam es dazu?
Mein eigentlicher Vorname ist „Carl Wilhelm“. Ich wurde in einer Zeit getauft, die noch sehr kaiserträchtig war. Mein Großvater Wilhelm war mein Taufpate, daher bekam ich seinen Namen. Mit der Zeit wurde mir „Carl Wilhelm“ aber zu umständlich.
Sie haben als Kampfflieger den 2. Weltkrieg überlebt. Ein Wunder?
Mein Kommandeur hat mich damals sehr geschützt. Jedesmal, wenn wir von unserer Basis Königsberg (heute Kaliningrad) einen Angriff fliegen sollten, sagte er: „Heute mittag kommt eine Freundin von mir. Bitte porträtieren Sie sie.“ Da war ich vom Einsatz befreit und dadurch auch nicht in Russland, wie mein bester Freund, der abgeschossen wurde.
Wie haben Sie die physischen und psychischen Zerstörungen des 2. Weltkrieges verkraften können?
Die Kunst hat mir dabei geholfen. Nach der Nazizeit habe ich mich endlich auch mit internationaler Kunst beschäftigen können. Picasso hat mich am meisten beeindruckt (...) In figurativen Kleinplastiken habe ich dann zunächst das Thema Zweisamkeit aufgegriffen: Zweisamkeit zwischen Mutter und Kind, zwischen Mann und Frau. Während meines Studiums habe ich den menschlichen Körper in seiner ganzen Art und Weise kennengelernt. Wir haben sogar in der medizinischen Akademie unseren Abschluss gemacht, in Anatomie.
„Dat Beste am Hering is die Jräte“
Will Brüll und Joseph Beuys verband eine enge Freundschaft. Beuys war als Navigator bei der Luftwaffe, Brüll Flieger. Gemeinsam haben sie nach dem Krieg an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Will Brüll erzählt gerne Anekdoten wie diese: „Eines Tages sagte Jupp, ‚Komm, wir gehen nach Köln. Da ist die erste Mataré-Ausstellung.‘ Per Anhalter sind wir dann nach Köln gefahren. In einer Gaststätte haben wir für unsere Lebensmittelmärkchen einen Hering bekommen und ihn geteilt. Am Schluss nahm Jupp die Heringsgräte und hielt sie hoch mit dem Satz: „Dat Beste am Hering is die Jräte“. Diese Heringsgräte hängt jetzt hinter Glas in der Mühle von Will Brüll.
Ihre ersten Arbeiten waren figürlich, aus Holz, Bronze und Stein. In den sechziger Jahren wurden sie abstrakter, und der Werkstoff wurde Edelstahl. Warum?
Als Luftwaffenpilot habe ich diese neue künstlerische Ausdrucksform für mich gefunden. Durch das Fliegen hatte ich den Raum für mich entdeckt. Mich interessierte nun nicht mehr die statuarische Plastik, sondern die Aktion, die im Raum möglich wird. Edelstahl war das passende Material für Großplastiken, die sich im Raum bewegen können und durch ihre geschwungenen Flächen Bewegung symbolisieren. Vor allem in der Landschaft entfalten sie ihre ganze Lebendigkeit.
Welches war Ihre erste Großplastik aus Edelstahl?
Ich hatte einen Wettbewerb fürs Landesbad Aachen gewonnen. Die Thermalausdünstungen sollten durch ein Kunstwerk geleitet werden. Dafür habe ich eine rund drei Meter hohe, durchbrochene Säulenform ent-
wickelt. Durch sie konnten die Dämpfe nach oben steigen und lösten eine Drehbewegung aus.
Wo stehen Ihre Plastiken?
Die meisten stehen hier am Niederrhein und in verschiedenen anderen deutschen Städten. Einzelne stehen in Frankreich, Spanien, Kanada und den USA.
Haben Sie auch Auftrags-Plastiken gefertigt?
Ja, Kunden waren deutsche Städte und Gemeinden, Konzerne und Institutionen. So habe ich zum Beispiel für die Gewinner des „Stahl-Innovationspreises“ Stahlskulpturen gefertigt und nach gewonnenen Wettbewerbsausschreibungen „Kunst am Bau“ gefertigt.
Haben Sie auch einmal einem Auftraggeber eine Plastik verweigert?
Ich habe einmal eine Plastik verweigert, die für einen Kindergarten gedacht war. Das wollte ich nicht, weil ich mir dachte: „Die wird dann mit irgendwelchen Dingen beschmissen.“ Das war eine bewegliche Plastik, die man drehen konnte und die dann garantiert auch noch zum Karussel umfunktioniert worden wäre.
An welchem Ort dürfte niemals eine Plastik von Ihnen stehen?
Ich wünschte mir, dass die Plastik am Brunnen auf dem Theaterplatz in Krefeld abgebaut würde, weil sie von Jugendlichen ruiniert worden ist. Das habe ich so oft reklamiert. Ich verstehe nicht, wie man so etwas bestehen lassen kann, vor allem in direkter Nachbarschaft vom Städtischen Theater. Furchtbar!
Welcher Standort wäre ein Wunsch-Standort für Ihre Plastiken bzw. für eine Ihrer Plastiken?
Es gibt sehr viele im Außenbereich. Ein Beispiel ist meine eigene parkähnliche Anlage. Gibt es im Umfeld der Skulptur keinen Naturbereich, der als Kontrapunkt zur Plastik fungiert, kann sie auch vor großflächiger Raster-Architektur stehen, wie mein „Großer Raumwirbel“ vor dem DGB in Düsseldorf. Der setzt dort einen dynamischen Kontrapunkt zum Gebäude. Auch Sakralbereiche sind gute Orte. Oder Plätze, bei denen man Traditionsverbundenheit spürt, wie im früheren Landesbad Aachen.
Eine Stiftung für den Erhalt der Kunst in der Turmwindmühle
Vor zehn Jahren haben Will Brüll und seine Frau Anneliese zur Sicherung ihres gemeinsamen Lebenswerkes eine Stiftung in Treuhandschaft der Stadt Meerbusch gegründet. Die denkmalgeschützte Turmwindmühle am Ortsausgang von Osterath und das zum ehemaligen Mühlenhof gehörende Nebengebäude hat das Paar 1955 von Grund auf saniert und liebevoll gestaltet. In den Räumen befinden sich hunderte Entwürfe der Brüllschen Edelstahl-Großplastiken, Holzskulpturen und Bronzeplastiken sowie Zeichnungen, Radierungen und Gemälde. Die Kunstsammlung wird ergänzt durch Originale von befreundeten Galeristen und Kommilitonen. Zum Areal gehören auch eine Werkstatt mit Nebenräumen und ein weitläufiger Garten mit rund hundert Edelstahl-Skulpturen.
Was ist Ihr persönlicher Lieblingsplatz zu Hause?
(lacht) Soll ich jetzt sagen: mein Bett? Mein Lieblingsplatz ist die Werkstatt. Da bin ich fast jeden Tag, aber mindestens dreimal in der Woche.
Haben Sie einen Lieblingsplatz auf der Welt?
Mein Schwager lebte in Kolumbien. Dadurch kam ich öfter dorthin, habe auch Vorträge in Rotary-Clubs gehalten. Bogota war eine eindrucksvolle Stadt. Dort bot man mir sogar eine Professur an, aber ich bin und bleibe Linker Niederrheiner. Ich bin nicht so ein internationaler Mensch. Früher haben meine Frau und ich viele Reisen gemacht, nach Spanien und Südfrankreich. Als Student fuhr ich mindestens einmal im Jahr nach Saint Tropez. Ich musste dort ja schließlich die hübschen Mädchen am Strand zeichnen, um meine Studien des menschlichen Körpers zu perfektionieren (schmunzelt).
Welche Musik hören Sie?
Ich habe selbst sehr viel musiziert, auf meinem kleinen Flügel. Der stand anfangs hier in der Mühle, die übrigens eine sehr gute Akustik hat. Daher haben meine Frau und ich hier auch viele Konzerte ausgerichtet. Vor kurzem habe ich in der Düsseldorfer Tonhalle einen russischen Pianisten gehört, und der war grandios. Einfach phantastisch!
Welche Fernsehsendungen schauen Sie?
Kultursendungen sind mir am liebsten. Dabei kann ich auch mal einen Überblick bekommen, was international passiert, in Belgien, Holland, Frankreich, USA. Kunst und Musik interessieren mich am meisten.
Was bedeutet Alter für Sie ?
(schmunzelt) Ich weiß nicht, was das ist...
Okay – und im künstlerischen Sinne?
Da denke ich an den Begriff des „kulturellen Bestandes“. Ich bewundere die alten Kulturen der Chinesen, Ägypter und Griechen. Faszinierend war auch, in den sechziger Jahren die Urbevölkerung von Kolumbien kennenzulernen. Die waren noch nicht so amerikanisiert.
Sie waren immer freischaffender Bildhauer. Wovon haben Sie gelebt?
Ehrlich gesagt, vom Essen.
Hatten Sie immer ein finanzielles Auskommen?
Ich habe dafür gesorgt und auch immer etwas zur Seite gelegt. Ich habe aber auch regelmäßig an Ausschreibungen oder Wettbewerben teilgenommen, die ich öfter gewonnen habe. Damals war Sakralkunst sehr gefragt, und die Kirchen hatten ja das Geld dafür. Kürzlich habe ich das Altenheim in Heerdt besucht. Dort habe ich draußen meine Raumschwinge gesehen und innen ein großes Kruzifix aus Stahl. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich das auch gemacht hatte.
Wie halten Sie sich fit?
Indem ich in mein Bett gehe. Das sind nämlich 85 Treppenstufen. Damals, als meine Frau in der 3. Etage der Mühle krank daniederlag und den ganzen Tag betreut werden musste, bin ich täglich mehrmals diese Treppe gelaufen. Da sagte mein Hausarzt: „Herr Brüll, Sie haben eins gut gemacht. Sie haben diese Mühle gekauft. Sie brauchen nicht Golf zu spielen.“ Ich gehe auch gerne in der Natur rund um die Mühle spazieren und marschiere zum Friedhof, um meine Frau zu besuchen.
(Anm. der Redaktion: Anneliese Brüll, geb. Houfer, war die Tochter von Heinrich Houfer, ehemaliger Generalmusikdirektor der Stadt Viersen, und ist 2010 verstorben. Will Brüll und seine Frau waren 60 Jahre ein Paar.)
Haben Sie Wünsche?
Nein, ich habe gerne Aufgaben. Deshalb gehe ich auch gern in die Werkstatt. Außerdem bin ich vom Schicksal begünstigt. Ich habe mit meinen 92 Jahren einen netten Freundeskreis, darunter eine sehr engagierte Dame, die mich regelmäßig zu Ausstellungen und Konzerten begleitet. Ich bin sehr dankbar, dass man bei diesen Gelegenheiten gemeinsame künstlerische Erlebnisse haben kann.
Will Brüll - Kurzporträt
Will Brüll wird 1922 in Viersen als Sohn einer katholischen Lehrerfamilie mit konservativ-preußischen Werten geboren. Als Fünfzehnjähriger porträtiert er bereits den Großvater in Öl. Auch andere Familienmitglieder werden zum Modellsitzen herangezogen. Seinen ersten Kunstpreis bekommt Will Brüll als 12-Jähriger für ein Porträt von Reichspräsident Paul von Hindenburg. Der Preis: ein Schnitzmesser. Als Heranwachsender ist Will Brüll durch den Nationalsozialismus vom internationalen Kunstgeschehen abgeschnitten und verrichtet von 1941 bis 1945 seinen Dienst als Kriegsflieger. Danach studiert er Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf bei Professor Joseph Enseling und Ewald Mataré. Nach dem Abschluss arbeitet Will Brüll als Bildhauer – bis heute.
Im August 2019 ist Will Brüll, drei Monate vor seinem 97 Geburtstag, in Meerbusch-Osterath verstorben.
Text: Petra Verhasselt | Bilder: Andreas Salmon | NiederRhein Edition, Ausgabe 01/2015