Im Winter 1995 drohte dem unteren Niederrhein eine Katastrophe. Der Rhein führte Hochwasser, in den Niederlanden drohten Deiche zu brechen. In dem kleinen Dorf Schenkenschanz bei Kleve kämpften die Einwohner gegen die Flut. Jan Jessen erinnert an die dramatischen Ereignisse.
Mein Feind, der Fluss
Januar 1995: Der Winter ist in diesem Jahr ungewöhnlich warm und nass. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge liegt im Dezember mit 139 Litern pro Quadratmeter weit über den Normalwerten. Tauwetter in den Mittelgebirgen lässt den Schnee schmelzen, es regnet dazu weiter, intensiv. Der alte Vater Rhein erhebt das Haupt aus seinem Bett, müde, langsam, doch unaufhaltsam. Am Niederrhein bereiten sich die Menschen auf ein Hochwasser vor. Mal wieder. Das letzte ist noch nicht lange her, erst vor zwei Jahren stand die Kölner Altstadt zu Weihnachten unter Wasser, braune Fluten wälzten sich damals Richtung Niederlande, prüften die Sicherheit der Deiche. Das Umweltbundesamt hat nach dieser Katastrophe darauf gedrängt, einen Maßnahmenkatalog gegen das Hochwasser umzusetzen, dem Fluss mehr Raum zu lassen, der von den Menschen in ein viel zu enges Korsett gezwängt worden ist. Natürliche Überflutungsgebiete sind Fehlanzeige. Allein, die Politik hat die Mahnung der Behörde nicht zur Kenntnis genommen.
In Schenkenschanz, einem 120-Seelen-Dorf bei Kleve, steht die braune Brühe 1993 einen Meter unter der Krone der Mauer, die nach dem verheerenden Jahrhunderthochwasser des Jahres 1926 errichtet worden ist. Der Fluss hat immer das Leben der Menschen hier geprägt, in dem Dorf, das Überbleibsel einer gewaltigen Festung ist, die im 16. Jahrhundert an der Gabelung von Rhein und Waal erbaut wurde, in der Zeit, als Spanier und die jungen niederländischen Provinzen Krieg führten. Doch in diesem Winter 1995 wird der Rhein die Schänzer herausfordern, wie er es noch nie zuvorgetan hat; und das kleine Dorf in den Fokus der Weltöffentlichkeit rücken.
Warten auf die Flutwelle
Donnerstag, 26. Januar: Der Pegelstand bei Emmerich steht bei 7,85 Metern, Tendenz steigend. Das Staatliche Umweltamt rechnet bereits mit einem Erreichen der Hochwassermarke von Weihnachten 1993. Damals wurden 9,54 Meter gemessen. Normal sind 3,65 Meter. Horst Terfehr, der Geschäftsführer des Deichverbandes Xanten-Kleve, der auch für die Schenkenschanz zuständig ist, warnt: Wenn die Hochwasserwellen des Rheins bei Karlsruhe, die am Vormittag dieses Tages registriert wurden, und die Flutwelle der Mosel bei Koblenz zusammentreffen, könnte das Hochwasser für den Kreis Kleve dramatische Ausmaße annehmen. In der Region warten die Menschen auf die große Flutwelle, bei Kleve werden auf den Rheindeichen bereits Straßen gesperrt, die Deichtore in Grieth und Griethausen werden geschlossen, noch nur vorsichtshalber.
Freitag, 27. Januar: Das schlechte Wetter hält an, es regnet unentwegt. Im Klever Kreishaus lädt Oberkreisdirektor Rudolf Kersting zu einem Krisentreffen. Vertreter von Deichverbänden, Deichschauen, der Bundeswehr, der Polizei, dem technischen Hilfswerk, der DLRG, der Städte und Gemeinden beraten die Lage. Allen ist klar: Es wird ernst. Der Pegelstand in Emmerich steigt in einem atemberaubenden Tempo, erreicht 8,20 Meter. Die Schanz ist von Wasser umgeben, genauso wie viele Bauernhöfe in der Klever Niederung. Trotzdem sind die Schänzer noch völlig entspannt. Sie wissen, was zu tun ist, als das Wasser langsam auf die Straßen ihres Dorfes läuft. Sie verschließen die Eingänge der Ortschaft, heben Kanthölzer in die davor vorgesehenen Schlitze in der Schutzmauer, ziehen darüber wasserdichte Planen. Brandinspektor Heinrich Evers, der Chef der freiwilligen Feuerwehr im Dorf, teilt seine Leute zur Schutzwache ein. Die Männer sollen kontrollieren, ob und wo Wasser durchbricht. Seinem Stellvertreter und Schwiegervater Norbert Heymann ist indes schon ein bisschen unwohl. Er hat schon nach dem Hochwasser 1993 den maroden Zustand der Mauer moniert, die jetzt von Rissen durchzogen ist.
Riskante Rettungsaktion
Samstag, 28. Januar: Die Schifffahrt auf dem Rhein wird eingestellt. Schaulustige aus dem Ruhrgebiet und den Niederlanden nutzen das Wochenende zum Hochwassertourismus. Auf der Schanz unternimmt Norbert Heymann einen riskanten Rettungseinsatz. Ein Landwirt hat fünf Kühe nicht rechtzeitig von der Wiese geholt, die Tiere werden jetzt von den Wassermassen bedroht, die in die Niederung strömen. Evers und Heymann fahren mit einem kleinen Nachen hinaus. Ein gefährliches Manöver, sind doch in der braunen Brühe Zaunpfähle und Stacheldraht nur sehr schwer auszumachen. Bei den Tieren angekommen, die zitternd im Wasser stehen, springt Heymann in voller Montur in die eiskalten Fluten und treibt die Rinder auf eine sichere Anhöhe. Gerettet.
Sonntag, 29. Januar: Allmählich macht sich am Niederrhein Angst breit, der Rhein steigt unaufhörlich weiter. Die Deiche weichen langsam auf. Gegen 10 Uhr hat der Pegel schon 9,13 Meter erreicht. Die schmutzig-braune Flut wälzt sich in raschem Tempo Richtung Niederlande, zahlreiche Bauernhöfe sind bereits von der Außenwelt abgeschnitten. Das Technische Hilfswerk ist pausenlos im Einsatz, versorgt die Eingeschlossenen und holt die Milch von den Höfen ab. Am Vormittag landet NRW-Umweltminister Klaus Matthiesen in Kleve-Bimmen, um sich ein Bild von der Lage zu machen, fliegt dann mit dem Hubschrauber weiter nach Emmerich. Am späten Vormittag begutachten Vertreter des Deichverbandes Xanten-Kleve die Situation auf der Schenkenschanz. Dort dringt an vielen Stellen Wasser durch die rissige Mauer. Die Feuerwehrmänner um Evers und Heymann stapeln Sandsäcke vor die undichten Stellen. Das zusätzlich noch eindringende Wasser sammelt sich über dem Regenkanal im Vorflutbecken unter der Leichenhalle und wird von dort durch eine Pumpenanlage über die Hochwasserschutzmauer zurückgepumpt. Gegen Abend erreicht der Pegelstand 9,30 Meter. In den Niederlanden hat die Maas bereits Venlo und Arcen überschwemmt. Es kursieren Gerüchte, dass die Niederländer die gezielte Sprengung von Deichen planen, um rheinabwärts gelegene Gebiete zu schützen.
Die Lage spitzt sich dramatisch zu
Montag, 30. Januar: Die Lage spitzt sich dramatisch zu. Gegen Mittag wird bekannt, dass die Deiche im Bereich der niederländischen Ortschaften Kekerdom bei Millingen und Ooij akut gefährdet sind. Der niederländische Krisenstab fordert 85.000 Menschen in der Umgebung Nimwegens auf, ihre Häuser zu verlassen. Jetzt herrscht auch im Kreis Kleve Alarmstimmung. Wenn die Deiche brechen, wird eine bis zu vier Meter hohe Flutwelle in die niedrig gelegene Düffelt schießen und die Klever Dörfer Bimmen, Keeken, Düffelward und Rindern unter sich begraben. In Kranenburg würde es die Ortschaften Zyfflich, Niel und Mehr treffen. Das Leben von 5000 Menschen ist bedroht, außerdem könnten Tausende Rinder und Schweine ertrinken. Ein alter Querdamm zwischen Zyfflich und dem Dorf Wyler, der die Welle aufhalten könnte, ist in einem maroden Zustand. Vor Jahrzehnten sind in den Deich Lücken gebrochen worden, für Wirtschaftswege. Pioniere der Bundeswehr und Feuerwehrleute versuchen fieberhaft die Lücken zu füllen, um das Schlimmste zu vermeiden. Nach einer hektischen Einsatzbesprechung löst Oberkreisdirektor Rudolf Kersting um 17 Uhr Katastrophenalarm aus. Das erste Mal in der Geschichte des Kreises Kleve. Die Bevölkerung in den bedrohten Dörfern wird mit Handzetteln („Bereiten Sie Ihre Unterbringung – insbesondere die von Kranken und Kindern – bei Verwandten und Freunden in hochwassersicheren Bereichen vor“) über die Medien und mit Lautsprecherdurchsagen informiert. Etliche Menschen sitzen schon auf gepackten Koffern. Der Krisenstab lässt Jugendherbergen in Kranenburg und Kleve, die Reichswaldkaserne in Goch und die Berufsbildende Schule in Kleve als Notunterkünfte einrichten.
In Keeken bricht Panik aus, als aus Richtung Millingen eine schier endlose Kolonne von Flüchtlingen die Grenze überquert. Viele Keekener glauben, die Deiche in den Niederlanden seien schon gebrochen. Feuerwehrleute haben Mühe, die Menschen zu beruhigen. Norbert Heymann sieht die fliehenden Massen aus den Niederlanden auf dem Deich bei Düffelward. Hunderte Autos fahren auf der Kreisstraße 3 Richtung Kleve, nur weg von den bedrohten Deichen. „Das ist ja eine Völkerwanderung“, denkt er und ihm ist ziemlich mulmig zumute.
Die Schanz muss evakuiert werden
In Schenkenschanz ist die Stimmung zwar angespannt, die hart gesottenen Schänzer bleiben aber ruhig. Mittags haben Soldaten mit Flussfähren 250 Rinder von einem Bauernhof in der Nachbarschaft gerettet. Spät abends melden sich Kleves Bürgermeister Karl Thelosen und Stadtdirektor Manfred Palmen. „Sprecht mit Euren Leuten“, bitten sie Heiner Evers und Norbert Heymann, „bringt sie dazu, sich evakuieren zu lassen“. Die Schanz würde zwar nicht in Mitleidenschaft gezogen, wenn in den Niederlanden die Deiche brechen würden. Aber dann könnte der Krisenstab keine Kräfte mehr stellen, wenn die Mauern um das Dorf nachgeben würden. In dieser Nacht schläft Heymann kaum, immer wieder steht er auf, schaut, wie der Zustand der Mauer ist. Der Rhein steht nur noch wenige Zentimeter unter der Krone. Gegen Mitternacht ist der Pegel bei Emmerich auf 9,69 Meter gestiegen.
Dienstag, 31. Januar: Um 3:30 Uhr erreicht der Pegelstand 9,74 Meter. Die Mauer auf der Schanz ist für eine Hochwasserhöhe von 9,80 Meter ausgelegt. Früh am Morgen beratschlagt die Dorfbevölkerung in der Schule, was zu tun ist. Kleves Bürgermeister und Stadtdirektor sind da, Evers und Heymann überreden die Schänzer, sich evakuieren zu lassen. Das hat es seit Menschengedenken nicht mehr gegeben. Um 5:30 Uhr beginnt die Evakuierung der Einwohner der Schenkenschanz mit einer Fähre der Bundeswehr. 90 Frauen, Kinder und ältere Menschen, darunter einige, die noch nie in ihrem Leben die Schanz verlassen haben, werden raus gebracht. Zurück bleiben einige Frauen und die Männer der Feuerwehr. Sie wollen um ihr Dorf kämpfen.
Angst und Hoffnung
In den gefährdeten Dörfern in Kleve und Kranenburg bleiben heute die Kindergärten geschlossen. Viele Menschen in der Niederung verlassen das bedrohte Gebiet, in der Nacht haben sie ihr Hab und Gut in höhere Stockwerke gebracht, oder es mit Kleinbussen, Lastwagen und Viehanhängern zu Verwandten und Bekannten transportiert. In etlichen Häusern bleiben aber die Männer zurück, aus Angst vor Plünderern. Sie wollen sich im Katastrophenfall in den Obergeschossen verschanzen. Mit Sandsäcken und Brettern versuchen sie ihr Eigentum zu schützen. Zahlreiche Hoteliers und Privatleute bieten ihre Hilfe und Unterkunft an. Von 87 Bauernhöfen in der Düffelt werden Schweine und Rinder auf höher gelegene Weiden gebracht, zehntausend Tiere sind es insgesamt. Gegen Mittag sind die Reparaturarbeiten am Querdamm abgeschlossen.
In den Niederlanden müssen weitere 140 000 Menschen in den Poldern zwischen Utrecht und Nimwegen ihre Häuser verlassen. Ein Hoffnungsschimmer: Die Wetterdienste melden für die nächsten Tage Wetterbesserung. Bei Köln und Duisburg sinken die Pegelstände wieder. Am unteren Niederrhein nicht. Um Mitternacht steigt der Pegel auf 9,84 Meter.
Mittwoch, 1. Februar: Auf der Schanz ist die Lage ruhig. Die Männer füllen Sandsäcke, stopfen die Löcher in der Mauer, verfolgen gespannt die Nachrichten. Zum Glück ist es absolut windstill, der Rhein peitscht nicht gegen das rissige Bauwerk. Und die Pegelstände sinken wieder.
In den Niederlanden herrscht an diesem Morgen noch einmal helle Aufregung. Bei Ochten klaffen auf einem Deichabschnitt von 190 Metern Länge gewaltige Risse. Polizei und Militär räumen das Dorf, innerhalb weniger Stunden ist es menschenleer. Das 101. Panzerbataillon versucht die Risse mit gewaltigen Planen und Sandsäcken zu reparieren. Um 17 Uhr ist der Pegelstand auf 9,70 Meter gesunken. In der Düffelt fahren zusätzliche Polizeikräfte Streife, um die Sicherheit von verwaisten Höfen und Häusern zu gewährleisten.
Die Pegel sinken wieder
Am Donnerstag und Freitag wird zunehmend klar: Die Katastrophe konnte diesmal verhindert werden. In den Niederlanden halten die bedrohten Deiche, auf der Schenkenschanz die Mauer und die Pegel sinken rasch weiter. Das Dorf war in den vergangenen Tagen weltweit in den Medien präsent, so eindrucksvoll sind die Luftaufnahmen der von Wasser eingeschlossenen Ortschaft. Mitte Februar wird sogar das Time-Magazin einen Artikel über die Flut mit einem großen Bild von der Schanz aufmachen.
Freitagabend um 21 Uhr hebt Oberkreisdirektor Kersting den Katastrophenalarm wieder auf. Die Schänzer können wieder zurück auf ihre Insel. Dort werden sie von den Daheimgebliebenen freudig begrüßt. Das Dorf feiert an diesem Abend den Sieg über die Naturgewalten. „Es hat sich gezeigt, dass die Gemeinschaft lebendig ist, in jedem Fall dann, wenn es wirklich drauf ankommt“, sagt Landrat Gerd Jacobs, und meint damit natürlich nicht nur, aber auch die verschworene Gemeinschaft auf der Schanz. In den Tagen danach kehren auch die Bewohner der Niederung in ihre Häuser zurück, die Aufräumarbeiten beginnen – und die Diskussionen darüber, wie die Region besser gegen den Zorn Vater Rheins geschützt werden kann. Die Jahrhundertflut hat den Hochwasserschutz auf der politischen Agenda ganz nach oben gespült. Spät, aber nicht zu spät.
1996 legte Nordrhein-Westfalen ein Konzept für einen nachhaltigen Hochwasserschutz auf. Das Prinzip: Schutz vor und Raum für den Fluss. Seitdem wurden 115 Kilometer Deiche saniert. Durch vier Deichrückverlegungen bei Köln, Wesel, Monheim und der Bislicher Insel bei Xanten kann sich der Rhein jetzt weiter ausdehnen, 68 Millionen Kubikmeter können die neu angelegten Flächen aufnehmen. Bisher hat das Land über 400 Millionen Euro für die Maßnahmen ausgegeben. Die alte Mauer um die Schenkenschanz wurde 1998 abgerissen. Heute ist das Dorf durch eine hochmoderne Mauer aus Stahlbeton geschützt, an den beiden Ortseingängen finden sich gewaltige Tore, die im Notfall geschlossen werden können. Das Bauwerk hat 4 Millionen Euro gekostet.
Gebannt ist die Hochwassergefahr trotz alledem nicht. Warme und nasse Winter werden wegen des Klimawandels in Zukunft die Regel sein, ebenso heftige Regenfälle. Und das Regenwasser kann immer schlechter im Boden versickern, da in Nordrhein-Westfalen noch immer jeden Tag eine Fläche in der Größenordnung von 30 Fußballfeldern unter Beton verschwindet. Sorge bereitet das Norbert Heymann allerdings nicht. „Wir Schänzer“, sagt der Mann, der vor 71 Jahren in dem kleinen Dorf geboren wurde, „wir haben keine Angst vor dem Wasser. Wir hatten es ja immer um uns.“
Dank an Rudolf Kersting, Norbert Heymann und Eduard Großkämper.
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[Text und Bilder: Jan Jessen | Quellen: Dokumentation des Kreises Kleve: Das Winterhochwasser Januar/Februar 1995, Rheinische Post / Neue Rhein/Ruhr Zeitung (NRZ), Eigene Recherchen | NiederRhein Edition 2008]