Wer Ruhrort besucht, trifft allenthalben auf Schimmi. Doch der Duisburger Ortsteil am westlichen Ruhrgebiet bietet mehr als Currywurst, Kumpel-Herrlichkeit und Schiffer-Latein.
Scheiße, Schimanski!
Zottel, du Idiot, hör auf mit der Scheiße. Am Abend des 28. Juni 1981 brachte dieser Satz mit dem Sch-Wort eine ganze TV-Nation in Wallung. Ausgesprochen in Duisburg-Ruhrort, Fürst-Bismarck-Straße, gegenüber der Hausnummer 10. Der Schreihals: Götz George alias Horst Schimanski. Wie kein anderer hat der Tatort-Kommissar das Klischee des stahlharten aber herzlichen Milieus des Ruhrgebiets geprägt. Bis 2013 war Schimmi in insgesamt 46 Folgen im „Tatort“ und später in „Schimanski“ auf der Leinwand zu erleben.
Hätte die Schreiberin eines Leserbriefs in der NRZ vom 2. Juli 1981 gewusst, welche Welle dieser Rotzlöffel für das Quartier, die Stadt, den Pütt und vermutlich für ganz Deutschland mit seiner rauhbeinigen Kommissarfigur auslöste, hätte sie sich folgenden Satz wohl verkniffen: „Die Vorstellung, von diesem geistlosen Geschwafel noch zehn Sendungen durchstehen zu müssen, erfüllt mich mit Schaudern. Lieber kein Fernsehen als Schimanski.”
Früher mal das St. Pauli des Ruhrgebiets
Schauen wir heute mal, gut 40 Jahre nach dem Sch….-Tabubruch, in Ruhrort vorbei. Spazieren die Meile im Rund zwischen Hafenmund, Vinckekanal, Bunkerhafen, Friedhof, Gleisen und Eisenbahnhafen. Und entdecken, was geblieben ist vom Schimmi-Kult und der dreieiigen Keimzelle Kohle/Kumpel/Kapital. Exakt an dieser Stelle im größten Binnenhafen Europas sollten doch noch Spuren zu finden sein.
Um es vorwegzunehmen: Ruhrort ist immer noch einen Ausflug wert. Wer sich drauf einlässt, entdeckt den Charme des Ruhrgebiets. Vor allem freundliche Menschen. Man grüßt sich, schaut sich in die Augen. Hilft dem Tagestouri weiter, wo es die beste Grillaschtorte (natürlich bei Kurz), das knofigste Döner, die knackigste Currywurst, die flotteste Tram und das schaumigste Köpi gibt. Plaudert furchtbar gerne, hat alle Zeit der Welt. Drauf einlassen bedeutet: Ruhrort ist nicht schön im ästhetischen Anspruch, aber archaisch schön in einem höheren Sinne. Ein Kiez, den man nicht vergisst.
„Ruhrort war mit über 100 Kneipen mal das St. Pauli des Ruhrgebiets, eine ideale Kulisse für einen zotteligen Kommissar wie Schimmi, der nichts anbrennen lässt“, sagt Dagmar Dahmen. Die 57-Jährige bietet seit zehn Jahren Schimmi-Touren an. Ihre Agentur ist eine Privatinitiative. Wie man überhaupt mit zunehmendem Verweilen in Ruhrort den Eindruck bekommt, dass manche Stadtväter den Ort eher als verkorkstes Waisenkind betrachten und ein wenig links liegen lassen. Während die Menschen selbst ihr Quartier lieben, gestalten und bestenfalls weiterentwickeln.Das Hutgeschäft, der Friseur, die Kneipe, der Imbiss, die Konditorei, das Trinkbüdchen, der Kiosk – fast alles ist aus der Zeit gefallen und tickt noch analog. Manche Schaufenster sind schlichtweg vernagelt. Die Abrissbirne hat Ruhrort sichtbar schlecht verdaut.
Eine Schimmi-Skulptur wird zurzeit eifrig diskutiert
All das hat der geniale Schauspieler Götz George mit seiner Kommissarfigur reflektiert. Er selbst ein besessener Schauspieler aus Berlin, akzentfrei und vermutlich wie sein ebenso berühmter Vater Heinrich gebildet, ein Grenzgänger seiner Zunft und in Wirklichkeit möglicherweise beileibe nicht ein so guter Tresennachbar, wie manche Schimmi-Fans es sich wünschen. Aber genau dieser Typ mit seinem scharfen Verstand und seiner Beobachtungsgabe war wohl in der Lage, die Melange aus Mief, Kleinbürgertum, Matrosenherrlichkeit, Macho, und Kumpel-Chaos aufzusaugen und in Schimmi Gestalt werden zu lassen. „Mit Schimmi hätte ich ein Bier getrunken, mit Götz George wohl weniger“, vermutet Dagmar Dahmen, die George nur bei Dreharbeiten beruflich getroffen hat. Die Touristik-Begleiterin ist kein Kind aus Ruhrort, stammt von der linken Rheinseite – Alpen, Kreis Wesel. Sie kann aber die Revier-Mentalität gut riechen und empfindet spätestens seit ihrer Zeit als fußballkundige Sprecherin des Meidericher Sport-Vereins MSV Duisburg eine tiefe Zuneigung zu den Ruhrgebiets-Menschen. Der Ball ist rund. In Ruhrort ist er geflickt.
Der Künstler Gernot Schwarz kommt aus seiner Galerie STUDIO 37 in der Nähe des Ruhrorter Hofs (wo es auch mal eine Schimmi-Leiche gegeben hat) rüber an die Straßenecke, um trotz Gequietsche der Straßenbahn mit Dagmar Dahmen über die von ihm gestiftete Schimanski-Skulptur zu plaudern. Die Bronze-Büste, ginge es nach dem Kreativen, sollte am Fuße der Schimanski-Gasse gegenüber dem Lokal „Zum Hübi“ platziert sein. Doch bis es soweit ist, werden noch viele Pilsken in den verbliebenen nicht mal ein Dutzend Gaststätten, Kneipen, Spelunken, Tavernen und Restaurants geschluckt.
Genau das ist Ruhrort. Es geht weniger darum, zu Potte zu kommen. Es geht darum, die Welt unter dieser Glocke mit all ihren Ecken und Kanten zu genießen und zu verinnerlichen. Dieses Gefühl hat wohl auch den Künstler Markus Lüpertz getrieben, als er seine Skulptur „Echo des Poseidon“ im Jahr 2016 anlässlich des Geburtstags „300 Jahre Duisburger Hafen“ auf die Mercator-Insel vor den Hafenmund setzte. Wie ein Wächter achtet der bronzegebräunte Bursche mit Ecken und Kanten darauf, dass die Ruhrorter mit ihren Spleens und ihrem Lebensgefühl in Frieden gelassen werden von all dem, was der Rhein ihnen zuspült zur Schifferbörse.
Der Poseidon ist ein ruppiges Schwergewicht
Wir jedenfalls spüren die natürliche Autorität des Meeresgotts bereits von fern, wenn wir uns zu Fuß über die Friedrich-Ebert-Brücke über die Stahltreppe dem Lüpertz-Kunstwerk nähern. Der 5-Meter-Goliath nur aus Kopf, mit elf Tonnen ein ruppiges Schwergewicht, könnte der unähnliche Zwilling von Schimmi sein. Denn auch er bedient sich in seiner Ausdruckskraft der Seele des Ruhrgebiets-Menschen, der ja durchaus einen eigenen Typus abbildet. Bei Schimmi ist der üppige Bart des Zeus-Bruders ab und nur der Schnauzer geblieben. Die Locken sind weniger onduliert als bei der mythischen Gottfigur. Der gestählte Körper und der mutige Blick nach vorn sind indes identisch: Hier bin ich, ich kann nicht anders. Natürlich ist es Zufall, dass die Poseidon-Büste im Schimmi-George-Todesjahr 2016 zu den Ruhrortern stieß…
Zurück auf der anderen Seite des Hafenmund sinnieren wir im „Hübi“ beim Betrachten der behäbig dahinzuckelnden Schlepper Richtung Holland oder Köln, dass der Ort mal reich gewesen sein muss. „Hier war richtig Kohle“, bestätigt Dagmar Dahmen diesen Eindruck. Ein paar Villen und Patrizierhäuser legen Zeugnis davon ab. Das Haniel Museum im Schatten der Pfarrkirche St. Maximilian berichtet von jener Zeit, als eine Unternehmerfamilie ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch cleveren Handel für einen wirtschaftlichen Aufschwung am westlichsten Zipfel des Reviers sorgte und mit den Krupp, Brockhaus, Grillo und Küppersbusch gleichzog. Während sich die Ausstellung im Museum zunächst auf die Geschichte der Binnenschifffahrt und der Haniel Reederei konzentrierte, lernen angemeldete Besucher mittlerweile auch Aspekte wie Bergbau, Hüttenwesen, Hausmusik, Kunst der Familie Haniel und Pharmazie kennen. In den 1990er-Jahren trafen sich Persönlichkeiten wie Klaus Kinkel, Joschka Fischer oder Prinz Claus der Niederlande bei Franz Haniel zum Gedankenaustausch. „Bildung als Chance“ ist der Slogan der Haniel Stiftung, die Einblicke gewährt in enkelfähiges Unternehmertum. Sozialwirtschaft pur – auch das ist Ruhrort.
Fazit: Vermutlich ist es ein Segen für Ruhrort, dass Camper, Oldtimer-Liebhaber und Freaks das Viertel mit unebenem Pflaster und schiefen Gleisen besuchen, während die Schönen und Reichen nebenan in Düsseldorf ihre Lodenmäntel und Pradataschen spazieren führen. Die Kurve in den Stadtteil, der seit 117 Jahren zu Duisburg gehört und sowohl von Ruhr als auch Rhein berührt ist, bekommt nur der hin, der das Schräge würdigt und um die Ecke gucken kann.
Text + Bilder: Axel Küppers für NiederRhein Edition 2022