Wenn Thomas die Leviten liest

Thomas a Kempis: Die Erinnerungskultur an den größten Sohn der Stadt Kempen wird außer in der Thomasstadt nirgends wacher gehalten als in Zwolle. Dort hat der mittelalterliche Kirchenlehrer vom Niederrhein mehr als 70 Jahre im Bergkloster gelebt und unermüdlich geschrieben. Auf dem Agnietenberg hat nun ein feines Thomas-Museum seine Pforte geöffnet.

Thomas a Kempis (1380-1471) ist in Kempen geboren, hat aber die längste Zeit seines Lebens in Zwolle gelebt und dort als Autor religiöser Werke gewirkt. Jetzt gibt es einen Impuls, sich auf die Spuren des Mystikers in die niederländische Hansestadt an der Vechte aufzumachen und die knapp 200 Kilometer für einen Tages- oder Wochenendausflug auf sich zu nehmen. Auf dem Agnietenberg, wo das Bergkloster stand, ist kürzlich ein neues Thomas-Museum entstanden.

In einer ehemaligen Volksschule am Bergkloosterweg 3a einen Steinwurf vom Klosterfriedhof hat der Friedhofs-Verein Bergklooster einen Trakt erworben. Die Stichting Thomas a Kempis – also die niederländische Thomas-Stiftung – kümmert sich zusammen mit dem Friedhofs-Verein um das Kleinod zu Ehren des Kirchenlehrers, der in den Niederlanden nicht minder bewundert und geehrt wird als in Deutschland.

In dieser alten Volksschule, … . Foto: A. Küppers
Anhand der Relikte … Foto: A. Küppers
Bert Pierik zeigt die Relikte … Foto: A. Küppers
(v.l.): Jan Bijlsma, Madzy van … Foto: A. Küppers
Hinter Glas geschützt … Foto: A. Küppers

Zu sehen sind in Zwolle seit März 2022 einige Editionen der „Imitatio Christi“ sowie weitere Thomas nahe Schriften, Relikte in Bentheimer Sandstein aus der Bergkloster-Ruine, historische Thomas-Abbildungen, Sekundärliteratur zum Wirken Thomas' sowie Skulpturen und Bilder zeitgenössischer Künstler. Allein die Imitatio-Christi-Ausgaben bilden zusammen mit den rund 2.000 Ausgaben des Kempener Thomas-Archivs eine beachtliche Sammlung. „Das ist eine schöne Ergänzung“, sagt Dr. Ulrike Bodemann-Kornhaas, die in Kempen für die Thomas-Stiftung Kiefer das Thomas-Archiv leitet. Unter den Museumsstücken befindet sich ferner ein Tableau einer 2001 entstandenen Plastik des Bildhauers Tom Waterreus, die die Stichting mit Unterstützung des örtlichen Lions Clubs auf den Weg gebracht hat.  Im Keller des Museums haben die Zwoller Thomasfreunde einen angenehm kühlen Filmraum geschaffen, in dem der 2018 anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Stichting entstandene Thomasfilm wohltemperiert gezeigt wird.

Niederländische Jugend steht auf moderne Thomas-Übersetzung

Madzy van der Plaats vom Vorstand der Thomas-Vereinigung zeigt beim Rundgang durch das Museum die zeitgenössische Übersetzung der „Imitatio Christi“ des Zwoller Dozenten Mink de Vries „Thomas a Kempis. De Navolging van Christus. In Jonge Taal“. „Diese Übersetzung kommt in den Niederlanden besonders bei der Jugend sehr gut an und macht die Menschen niederschwellig mit den Schriften des Thomas vertraut“, so die pensionierte Lehrerin.

Bert Pierik, der Verwalter des Bergkloster-Friedhofs, war die treibende Kraft bei der Schaffung des ebenso kleinen wie feinen Thomas-Museums. Der Gottesacker, der mit seinem wunderbaren alten Baumbestand und der phantasievollen Grabsteingestaltung über Jahrhunderte ein Idyll der Stille ist, war einst Teil des Klosters. Der katholische Klosterkomplex wurde Ende des 16. Jahrhunderts vom protestantischen Stadtrat in Zwolle abgerissen. Die Besitztümer des Klosters wurden 1591 zunächst dem Propst von St. Lebuïnus in Deventer und ein Jahr später der Stadt Zwolle zum Unterhalt zugewiesen. Ein Auszug der Besitztümer findet sich im Museum Historisch Centrum Overijssel in Zwolle.

Auf dem St. Agnes-Friedhof liegen einige berühmte Niederländer und Persönlichkeiten aus Zwolle. Im Jahr 1998 wurden die Grundmauern der Klosterkirche an der Ostseite des Friedhofs gefunden. Bert Pierik, Jahrgang 1961, wurde nicht müde, diese Relikte für das Stichting-Museum nutzbar zu machen. Jeder Stein, der nun in der Schatzkammer liegt, atmet den Geist des Thomas.

„Nachfolge Christ“ war im Mittelalter ein Bestseller

In dem Kloster im Nordosten von Zwolle hat der Mönch vom Niederrhein tatsächlich eine Reihe von Werken geschaffen, die Weltruhm erlangen sollten. Unter anderem seine berühmteste Schrift „De Imitatione Christi“ – die „Nachfolge Christi“ – hat Thomas dort verfasst. Das Werk gilt als die zentrale Schrift der devotio moderna, einer mittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung, die eine Erneuerung der Kirche antizipierte und Verinnerlichung des Glaubens postulierte. Das Buch ist – neben der Bibel – eines der am weitesten verbreiteten und bekanntesten christlichen Andachtswerke überhaupt. Die „Nachfolge Christi“ war im Mittelalter eines der meistgelesenen Werke. Der fromme Kempener hielt sich ab 1399 in dem Kloster auf und war von 1425 bis 1448 Subprior. Thomas starb 1471 in St. Agnes. Nachvollziehbar, dass seine Hauptschrift ein Spiegelbild des klösterlichen Lebens auf dem Agnietenberg reflektiert.

Die 72 Jahre, die Thomas a Kempis in Zwolle gewirkt hat, mögen dazu beigetragen haben, dass er sich in den Niederlanden großer Beliebtheit erfreut. Seine Aphorismen werden nicht nur zur Erbauung herangezogen. Die werden häufig zitiert, um den Finger in Wunden zu legen, wie eine von Krisen, Egoismen und Materialismus zu implodieren drohende Weltgemeinschaft gerettet werden könnte. Diesen kritischen Ansatz, den man aus den Schriften des Gelehrten herausinterpretieren kann, spricht beispielsweise die Zwoller Bezirksverordnete Monique Schuttenbeld unverblümt an beim Sommerabendtreffen Ende Juni in Zwolle. Zu dem Stelldichein in der Abendstunde hat die Stichting ans Thomas-Monument eingangs des Friedhofs Agnietenberg eingeladen. Kein Stuhl an diesem Ort der paradiesischen Ruhe bleibt frei, als die Kulturbeauftragte ihrer Stadt vorträgt. Mit ihren Worten liest sie den Mächtigen, den Mördern, den Despoten und den Kriegsverbrechern – Thomas zitierend  – die Leviten.

Die wohl berühmteste historische…
Am Gedenkstein für Thomas …
Alter Baumbestand und bildhauerisch …

Werte des Humanismus in verständlicher Sprache

Entsprechend groß ist nach einer kontemplativen Dreiviertelstunde der Applaus für allgemeingültige Weisheiten aus berufenem Munde, die ein Gelehrter vom Niederrhein vor 600 Jahren in seiner Kloster-Kemante mit Federkiel und Tinte zu Papier brachte und damit die Werte des Humanismus, der Mitmenschlichkeit, der Versöhnung und der Zuversicht in verständliche Sprache packte. Da ist beispielsweise der Thomas-Spruch „Een goed devoot mens, regelt eerst innerlijk de bezigheden, die hij uiterlijk moet gaan verrichten“, den die Stichting als Überschrift ihres Prospektes ausgewählt hat. Auf Deutsch klingt das etwa so: „Ein guter gläubiger Mensch ordnet zunächst einmal innerlich die Tätigkeiten, die er äußerlich zu verrichten hat.“ Dazu passen bei der heiteren Stunde am Thomas-Stein die meist romantischen Stücke des Musikerduos Jeroen van Dijk (Cello) und Rik Hasselman (Gitarre), die Werke von Burgmüller, Zaragoza, Bach und Máximo Pujol zu Gehör bringen. Die hohen Eichen, Buchen, Linden und Ahornbäume hallen aus dem Blattwerk die Worte und das Klangspiel mit natürlicher Kraft wider. „Oprechte dank“, sagt Jan Bijlsma im Dämmerlicht der Blauen Stunde zu Monique, Jeroen und Rik nach so viel einfühlsamer Kulturvermittlung im Sinne von Thomas. Der pensionierte Pädagoge ist Vorsitzender der Stichting und sich nicht zu schade, mit einem Häuflein Helfern nach der Sommerserenade die Stühle und Bänke wieder ins Friedhofsdepot zu tragen. Als Philosophie- und Ethiklehrer im Ruhestand ist das Thomas-Gedankengut Jan Bijlsma sehr vertraut.

Die Sommerabende am Gedenkstein, 1919 aus Muschelkalk im Geiste der Neogotik vom Bildhauer Pierre Cuypers (1827-1921) aus Roermond geschaffen und vor 24 Jahren zum Agnietenberg versetzt, haben nicht nur für Jan Bijlsma immer einen besonderen Stellenwert im Kulturreigen der Stichting. Cuypers, der Erschaffer des Monuments, gehört zu den renommiertesten niederländischen Künstlern. Der Architekt Cuypers hat mit Rijksmuseum und Hauptbahnhof in Amsterdam zwei der berühmtesten Gebäude des Landes entworfen. Zum Kulturangebot der Stichting gehören ferner Lesungen, Führungen auf den Spuren von Thomas durch Zwolle, Diskussionsforen sowie jede Menge Veröffentlichungen – gedruckt oder ganz modern als Newsletter.   

Stichting in Zwolle und Thomas-Stiftung Kiefer in Kempen ziehen seit Jahren an einem Strang, wenn es darum geht, das Erbe des Thomas wach zu halten. So war es für die Zwoller im Vorjahr selbstverständlich, den zahlreichen Feierlichkeiten in Kempen anlässlich des Jubiläums „550. Todestag Thomas a Kempis“ beizuwohnen. „Wir sind begeistert, wie aktiv die Stichting in Zwolle ist“, sagt andererseits Angela Janssen, die Vorsitzende der Stiftung Kiefer, die in Kempen zusammen mit Thomas-Archiv und Thomas-Verein Herausragendes pro Thomas geschaffen hat. In diesem Jahr 2022 will die Stiftung nach dem anstrengendem Jubiläumsjahr 2021 zur Ruhe kommen und Kraft schöpfen. Im Plan hat Angela Janssen beispielsweise einen Thomaspfad, der vom Denkmal auf dem Kirchplatz zu den Wirkungsstätten des Mystikers führt und den Menschen dessen Philosophie von Bescheidenheit und Demut auf einem Spaziergang näher bringt.

Eine moderne Übersetzung …
Statt einer Begrüßungstafel …
In Kempen an der Spitze der Thomas-Stiftung Kiefer …
Vor einer Thomashandschrift …
Neues Thomas-Denkmal in Kempen …
Die Thomas-Statue vor seinem Geburtshaus in Kempen …

Hemerken: Thomas Vater schwang das Hämmerchen

Angela Janssen erinnert auch an das vielbeachtete Magazin „hemerken“. Hemerken: Das ist der bürgerliche Familienname von Thomas a Kempis, bedeutet „Hämmerchen“ und deutet auf den Beruf des Vaters vermutlich als Feinschmied hin. Die Stiftung Kiefer hat dieses hochwertig gedruckte Heft anno 2018 herausgegeben. Reflektiert wird darin von Journalisten, Wissenschaftlern, Pädagogen, Politikern, Geistlichen und Intellektuellen der Tiefgang des Thomas, verpackt in leichter Sprache, geistreich geschrieben und treffend illustriert. Jan Bijlsma beispielsweise ist angetan vom Aufsatz „Das Treffen von Kempen“, in dem der Kunsthistoriker Arnt Cobbers enthüllt, wie sich Thomas und andere Kultur-Größen im Jahr 1453 in Kempen begegneten. „Die Grenzen zwischen Fiktion und historischer Wahrheit verwischen in diesem Aufsatz“, schmunzelt Angela Janssen über das originelle Historienbild und freut sich über die positive Resonanz aus Zwolle.

Um die Jahreswende 2018/2019 hat Kempen auf Initiative des Arztes Dr. Martin Kamp und auf Betreiben des Lions Club „Thomas a Kempis“ ein modernes Thomas-Kunstwerk erhalten, das die Künstlerin Edith E. Stefelmanns geschaffen hat. Monatelang hat die Kreative hierfür zuvor Studien betrieben, ganz im Sinne des Thomas „Met een boekske in een hoekske“ – mit einem Büchlein in einer stillen Ecke. Die künstlerische Annäherung war ein Meilenstein in dem Bestreben, die Lehren des Mönchs ins Hier und Heute zu transferieren. „Wenn wir Thomas lesen, erkennen wir, wieviel er uns gerade heute mitzuteilen hat. Die Welt muss nur hinhören. Es täte uns allen gut“, sagt die Kempenerin. Edith E. Stefelmanns schlägt dabei die gleiche Note an wie zeitgleich Monique Schuttenbeld beim Sommerabend in Zwolle.

Fast scheint es so, dass sich die beiden Stiftungen in Zwolle und Kempen gegenseitig beflügeln, wenn es um Thomas und der Verbreitung von dessen Spiritualität geht. „Dat is goed“, sagt Henk Tacken, so etwas wie die gute Seele bei der Stichting und seit Jahrzehnten dem Thomas-Erbe verbunden. Für 2022 hat nun Zwolle mit dem Thomas-Museum den Meilenstein gesetzt. Weitere werden folgen, ob in der Ijsselregion oder am Niederrhein.

Thomas a Kempis museum
Bergkloosterweg 3A
8034 PL Zwolle
Niederlande
Wer das Museum besichtigen möchte, meldet sich bitte bei Bert Pierik an. 
Telefon 0031 6 237755481
E-Mailinfo[at]​bergklooster.nl

Weitere Infos
www.thomasakempiszwolle.nl
www.thomas-stiftung-kiefer.de

Text + Bilder: Axel Küppers

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