Die Botschaft bei „Lange Esters“ lautet: Entdecke mich!
Mittlerweile stehen die Krefelder Villen vom künstlerischen Anspruch her auf einer Stufe beispielsweise mit dem Barcelona-Pavillon, den Mies 1929 für die Weltausstellung in der katalanischen Metropole konzipiert hat und der als eine der Architektur-Ikonen des 20. Jahrhunderts gilt. In Krefeld ist der epochale Zeitsprung an den führenden Museen ablesbar: Während das 1894-1897 erbaute Kaiser Wilhelm Museum als palastartiger Monumentalbau noch Ausdruck der Eklektizismus und der Kaiserzeit ist, prägen die Häuser Lange und Esters der Gedanke des fließenden Raumes, des Ineinanders von Innen und Außen.
Hier Renaissance, dort Bauhaus; hier Monarchie, dort Demokratie; hier Kult und Mäander, dort Klarheit und Strenge: Während am Kaiser Wilhelm Museum kein Schnörkel zu wenig zu sein scheint und alles üppig ins Figürlich-Plastische fließt, kommen die Häuser Lange und Esters schnörkellos, fast schon technisch- logisch und immer minimalistisch rüber. Dieser stilistische Gegensatz macht die Begegnung mit den Krefelder Kunstmuseen spannend. Man könnte es auch so ausdrücken: Das „Kaiser Wilhelm“ entlockt dem Premieren-Besucher spontan ein Wow, wohingegen die Botschaft bei „Lange Esters“ ist: Entdecke mich!
Auftraggeber für die Mies-Häuser waren Hermann Lange (1874-1942) und Josef Esters (1884-1966), zwei Krefelder Textilunternehmer und Kunstsammler. Sie standen an der Spitze der „Verseidag“. Das war der Zusammenschluss mehrerer Textilbetriebe vom Niederrhein zur „Vereinigten Seidenweberei Aktien Gesellschaft“.
Als Mies den Zuruf bekam, war die Krefelder Samt- und Seidentradition, begründet im 17. Jahrhundert durch die Familie Von der Leyen, bereits im Niedergang. Während der Weimarer Republik erlebte sie noch einmal einen Aufschwung. Vielleicht wollten Lange und Esters aus diesem Bewusstsein heraus etwas Bleibendes für die Nachwelt schaffen. Ein Ausrufezeichen, das mit keiner anderen Architektur im einst so reichen Krefeld mithalten konnte. Und vielleicht wollten sie auch ein wenig provozieren.
„In ihrer Radikalität entsprachen die Häuser nicht dem bürgerlichen Kunstverständnis“, sagt Magdalena Holzhey.
Mies und Lange waren sich im Umfeld der Berliner Avantgarde der 1920er-Jahre über den Weg gelaufen. In Krefeld hatten Lange und Esters bereits 1921 und 1923 die nebeneinander liegenden Grundstücke erworben. Mies beschäftigte sich zu dieser Zeit – heute vor 100 Jahren – mit Häusern für die Zukunft, die er zunächst nur skizzierte. Noch fehlte der Mut der Auftraggeber, so etwas tatsächlich bauen zu lassen. Hochhäuser aus Glas und Stahl, Landhäuser in einer eigenwilligen Melange aus Backstein und Eisenbeton. Auf Wettbewerben und Ausstellungen ja – aber gebaut? Nein!
Als Mies 1927 im Zuge der Ausstellung „Die Wohnung“ in Stuttgart die berühmte Weißenhofsiedlung konzipierte, entstanden die ersten Entwürfe von Haus Esters. Ungewöhnlich für den Niederrhein mit seinen Satteldächern waren die Flachdächer der Villen. Auch der L-förmige Grundriss suchte bislang seinesgleichen. „Was die Häuser Lange und Esters von vielen anderen Museen unterscheidet: Sie sind für Wohnzwecke angelegt und dienten den Fabrikanten auch lange als Wohnhaus für die Familie“, betont Magdalena Holzhey. „Das Haus Lange ist für mich eines der schönsten Museen, weil es eben kein Museum ist und nicht als Museum erbaut wurde“, beschrieb der Künstler Ernst Caramelle anlässlich seiner Ausstellung 1990 die Doppelfunktion der Häuser. Gemeint ist der intime Charakter, der bis heute Charme verleiht.
Während Mies zur Straßenseite hin spärlich mit Fensterraum operiert hat, dominieren zur Gartenseite hin verhältnismäßig große quadratische Öffnungen. Sie sind gleichmäßig über die langgestreckte Fassade verteilt. Im Erdgeschoss sind sie absenkbar in den Boden, was für die damalige Zeit ebenfalls ungewöhnlich war. Durch die großen Fenster sind die Innenräume lichtdurchflutet, was besonders fotografischen Arbeiten entgegenkommt. Kuratorin Magdalena Holzhey, seit sechs Jahren in den Krefelder Kunstmuseen zuhause, verweist auch auf den Garagenhof, der die beginnende Vormachtstellung des Automobils signalisierte.
Die Offenheit im Erdgeschoss mit einladender Halle konnte Mies nicht hundertprozentig durchsetzen, weil Lange und Esters noch der klassischen Raumstruktur mit Türen verhaftet waren. Um dem Bedürfnis der Bauherren nach geschlossenen Räumen gerecht zu werden, installierte Mies zwischen Halle und Essbereich eine mobile Holzwand aus vier Paneelen als Raumteiler. Ein Duktus, der sich im zweiten Stock wiederfindet: Die Schlafzimmer der Fabrikantenfamilie waren für Sie und Ihn getrennt, jedes Schlafzimmer ist mit einem eigenen Bad verbunden. Was im übrigen auch für die drei Kinderzimmer gilt – alle haben ihr eigenes Bad. Die streng sym- metrisch angeordnete Wohnetage mit insgesamt fünf Bädern ist in Haus Lange nachzuvollziehen.
Haus Esters war noch bis 1979 von der Familie bewohnt, bevor es in den städtischen Besitz überging und als Museum diente. Haus Lange wird bereits seit 1955 von der Stadt als Kunstmuseum genutzt. Hermann Lange und seine Frau siedelten 1938 nach Berlin um. Ulrich Lange, Sohn des Bauherrn, schenkte der Stadt Krefeld 1968 sein Haus, um diesen Ort für zeitgenössische Kunst zu reservieren.
Klare Kante zeigt Ludwig Mies van der Rohe bei den verwendeten Materialien
Während im kurz zuvor in Wien fertiggestellten Bauhaus Wittgenstein von Paul Engelmann eine helle Putzfassade prägend war, nutzte Mies in Krefeld den typisch niederrheinisch-niederländischen Backsteinklinker im dunklen Rotbraun. Tatsächlich handelt es sich um Bockhorner Klinker, den der Architekt aus Friesland kommen ließ. Mies, der eine Maurerlehre gemacht hat, ließ das Ziegelmauerwerk im Kreuzverband ausführen. Eingangstüren und Böden sind in Holz gehalten: die Türen im Makassar-Ebenholz mit edler Maserung, die Parkettböden in Nussbaum und Eiche. Die Fensterrahmen sind aus Stahl, die Fensterbänke aus Travertin. All das, so formuliert es Magdalena Holzhey, macht die Häuser Lange und Esters zu einer „positiven Vision der Moderne“.
Nicht minder nachhaltig sind die Gärten angelegt. Mies waren der Dialog zwischen Architektur und Natur sowie das Spiel zwischen Innen und Außen wichtig. Überteils offene, teils überdachte Terrassen, die den kubischen Bauformen der Häuser entsprechen, führt der Weg in die Parkanlage. Es gibt keinen Baum, der ohne sein Wissen und mit seinem ausdrücklichen Einverständnis gepflanzt worden ist. Das Mies`sche Wegesystem ist nach Veränderungen in den Nachkriegsjahrzehnten wieder freigelegt. Während in den Villen ständig neue Wechselausstellungen zeitgenössischer Kunst zu sehen sind, zeigt die umliegende Parkanlage dauerhaft installierte Skulpturen. Es sind also Gärten für die Kunst, die besonders im Herbst und auch im Winter ihren ganzen Zauber ausbreiten. Die Palette der Werke reicht von Richard Long, Ludger Gerdes und Claes Oldenburg über Richard Serra, Thomas Schütte und Michael Craig-Martin bis hin zu Ulrich Rückriem und David Rabinowitsch.
Ein Kleinod ist das Gartenhaus, das Josef Esters als Erholungsort für die Familie errichten ließ. Die US-Künstlerin Andrea Zittel hat zum Projekt „Anders Wohnen“ im Bauhausjahr 2019 darin ein interaktives Kunstwerk geschaffen, das in den Sommermonaten als Café genutzt werden kann. Ein ähnliches Konzept verfolgt Direktorin Katia Baudin nun mit dem Café im Kaiser Wilhelm Museum, das vom Wiener Designer Robert Stadler durchdesignt im Frühjahr 2021 eröffnet werden soll – rechtzeitig zum Jubiläum – so es denn die Coronalage zulässt.
[ Text: Axel Küppers || NiederRhein Edition, Ausgabe 02/2020 ]
LESE-TIPP
»Short Stories für Haus Lange Haus Esters«
von Marion Brasch, Matias Faldbakken, Mark von Schlegell // Herausgeberinnen: Katia Baudin, Sylvia Martin, Magdalena Holzhey // 120 S., dt./engl., // Grass Publishers // Erschienen 2020
Mit Short Stories für Haus Lange Haus Esters ist die erste ortsspezifische Literatur zu den Krefelder Bauhaus-Villen erschienen. Über Jahrzehnte hinweg haben sich Künstler*innen immer wieder in Ausstellungen mit Haus Lange und Haus Esters auseinandergesetzt. Nun haben die Kunstmuseen Krefeld erstmals eine Autorin und zwei Autoren eingeladen, ortsspezifische Literatur zu realisieren. Marion Brasch, Matias Faldbakken und Mark von Schlegell haben drei packende Kurzgeschichten geschaffen, die auf ganz unterschiedliche Weise die geschichtsträchtigen Häuser mit Leben füllen.
Das Buch kann per E-Mail an servicekunstmuseen[at]krefeld.de oder telefonisch unter 02151-97558-137 bestellt werden. Der Museumspreis beträgt 16,50 Euro zzgl. Versandkosten (Inland: 2 Euro, Ausland: 3,50 Euro). Natürlich kann man es auch über den Buchhandel bezogen werden. Der Bezugspreis der Buchhandelsausgabe beträgt 18 Euro.
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